Gerhard von Keußler

Juninacht am Meer

Ein symphonisches Gedicht für Orchester, Erstausgabe hg. von Denis Lomtev, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Laurentius
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 65

Der aus dem Baltikum stammende Gerhard von Keußler (1874-1949) ist wirklich nur noch wenigen Eingeweihten bekannt, wenngleich er seit 1906 für zwölf Jahre dem deutschen Singverein in Prag vorstand und zu Beginn der 1920er Jahre immerhin für vier Jahre Dirigent des hamburgischen Singvereins und der dortigen Konzertgesellschaft war. Danach wirkte er lange Zeit in Australien, kam aber 1935 wieder zurück. Ihm wurde 1936 eine Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin übertragen, auch wenn er mit der Nazi-Kulturpolitik über Kreuz war und 1939 sogar ein Verbot von Aufführungen seiner Werke verhängt worden war. Er hatte wohl gute Fürsprecher in der NS-Bürokratie. Komponiert hatte Gerhard von Keußler überwiegend Oratorien und Opern, oft auf eigene Texte, allesamt in einem spätromantischen Idiom, teilweise philosophisch verrätselt. Viele dieser Werke wurden sicher von den Chören, die er leitete, uraufgeführt. Für sein „symphonisches Gedicht“ Juninacht am Meer lässt sich eine Aufführung nicht nachweisen, nicht einmal ein konkretes Datum der Komposition. Im Vorwort zu der nun vorliegenden ersten Partiturausgabe kommt der Herausgeber Denis Lomtev zu dem Schluss, das Werk müsse aufgrund seiner stilistischen Nähe zu anderen Werken des Komponisten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sein. Aus dem Originalmanuskript, einem Stimmensatz und einer Arbeitspartitur, aufbewahrt im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar, hat Lomtev die jetzt vorliegende Fassung als Erstausgabe ediert. Das Werk ist mit dreifachem Holz inklusive Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott nicht unüblich besetzt. Im Blech verlangt der Komponist vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen und Tuba. Dazu kommen Harfe, Pauken und sparsam eingesetztes Becken. Spieltechnisch ist das Stück aufgrund seines Tempos nicht ohne Anspruch, aber es hält – im Gegensatz zu zeitgleich entstandenen Werken von Strauss, Mahler, Strawinsky oder Debussy – keine nennenswerte Schwierigkeiten parat. Von wenigen Takten abgesehen, ist es durchgehend im flotten ¾-Allegro oder Vivace notiert. Es gibt einen Ruhepol, und das Stück klingt etwas ruhiger aus. Besondere Instrumentationseffekte sieht man wenige, einzig das häufig eingesetzte Streichertremolo mag zu einer flirrenden Wirkung beitragen. Harmonisch findet man die um die Zeit üblichen chromatischen Fortschreitungen und eine Vorliebe für Quartharmonien. Gerhard von Keußlers Juninacht am Meer fliegt so rasch vorbei wie sie beginnt. Formal gleicht sie daher eher eine Skizze. Im Konzert dürfte die Miniatur rund sechs Minuten dauern: Das „Symphonische Gedicht“ Juninacht am Meer wartet auf seine Uraufführung.
Gernot Wojnarowicz