Antonina Klokova/Jascha Nemtsov (Hg.)

Julian Krein: „Notizen aus meinem musikalischen Leben“

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Harrassowitz
erschienen in: das Orchester 02/2020 , Seite 58

1908 gründete sich in Sankt Petersburg die „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wuchs der Verein auf über 1000 Mitglieder an und erfreute sich durch zahlreiche Konzerte mit neukomponierten Werken im jüdischen Stil großer Aufmerksamkeit. Der Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die Emigration vieler Musiker aus der jungen Sowjetunion und schließlich die Restriktionen des Stalin-Regi­mes sorgten für eine Beendigung der Vereinsaktivitäten im Jahr 1929.
Der Pianist und Musikforscher Julian Krein (1913-1996), Sohn des Reger-Schülers Grigori Krein (1879-1957) und Neffe des Tanejew-Schülers Alexander Krein (1883-1951), erlebte als Jugendlicher das Auf und Ab der Neuen Jüdischen Schule in der Sowjetunion. Er bekam, begleitet von seinem Vater, die Möglichkeit, die Jahre 1927 bis 1934 in Paris zu verbringen und bei Paul Dukas zu studieren, bevor er nach Moskau zurückkehrte und dort als Komponist und Lehrer wirkte. Sein reichhaltiges Klavierschaffen, im Wesentlichen zwischen 1923 und 1956 entstanden, weist ihn – im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Onkel – mehr als Nachfahren des späten Skrjabin und der südeuropäischen Stile zwischen Debussy, de Falla und Respighi denn als Protagonisten einer jüdischen Schule aus.
Der Weimarer Forscher Jascha Nemtsov entdeckte Julian Kreins Lebenserinnerungen bereits 2004 im Moskauer Glinka-Museum als Manuskript. In der jetzt auf Deutsch vorgelegten, mit seltenem Bildmaterial ausgestatteten Ausgabe erweist sich diese Autobiografie als eine wahre Fundgrube authentischer Berichte über das Musikleben in Wien, Paris und Moskau bis Mitte der 1950er Jahre. Krein hörte in Wien Konzerte von Wilhelm Furtwängler, Robert Casadesus oder Josef Szigeti und nahm Klavierunterricht bei Eduard Steuermann; in Paris begegnet er neben Dukas den Komponisten Florent Schmitt, Heitor Villa-Lobos oder Arthur Honegger und erlebt dort 1931 die Uraufführung seines eigenen Cellokonzerts; und selbstverständlich steht er in Moskau in regem Gedankenaustausch mit Musikgrößen wie Sergej Prokofjew. Die Aufzeichnungen enden wohl nicht zufällig mit dem Tod des hochverehrten Vaters Grigori Krein, mit dem er bis zuletzt zusammenlebte.
Was Julian Krein nicht anzusprechen wagte, thematisiert Jascha Nemtsov in einem klugen Nachwort „Was heißt da noch Freiheit des Schaffens?“: die Mischung aus staatlicher Kontrolle sowie Selbstkontrolle und Anpassung der Künstler selbst wirkte de facto wie ein Verbot jüdisch akzentuierten Schaffens: „Die Künstlerverbände in der Sowjetunion spielten […] eine Rolle, die der Reichskulturkammer in Nazi-Deutschland durchaus ähnlich war.“ Erst mit Beginn der Perestroika ab 1986 bekam die Jüdische Schule auch in Russland wieder eine Chance; Julian Krein konnte in seinen letzten Jahren diese Entwicklung noch miterleben.
Rainer Klaas