Adelheid Schloemann/Claudia Woldt (Hg.)

Jubel. 1870-2020. 150 Jahre Dresdner Philharmonie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Dresdner Philharmonie, Dresden 2020
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 72

Zum Jubeljahr ein Jubelbuch, das gönnen sich auch Orchester gerne. Bei der Dresdner Philharmonie aber wählte man einen anderen Weg, das Bestehen seit 150 Jahren zu feiern. Denn nachdem man blätternd ihrem Publikum beim Hören zugeschaut hat, lautet die erste, (ge)wichtige These: „Auch die Musik verlor ihre Unschuld.“
Gewohnt akribisch und kenntnisreich schildert Albrecht Dümling, wie das Orchester auch unterm Hakenkreuz und zur Truppenbetreuung spielte, ein „Musikkritiker“ des Völkischen Beobachters zum Dirigenten und Hans Knappertsbusch als „echter Germane“ stilisiert wurde. Ausgehend von wirtschaftlichen Nöten der Philharmonie zeigt Dümling, wie sich Personen und Positionen dem neuen Ungeist anglichen und andienten und so zu einem Bestandteil der Nazi-Propaganda wurden. Eingerahmt wird dieser kundige Essay von einem Bild des zerstörten Konzerthauses mit Wagner-Plakette und dem Großfoto des zerbombten Dresden. So setzen Bilder immer wieder Akzente und Ausrufezeichen in diesem Band, in dem die lange Chefdirigentenchronik zwischen die Kapitel gestreut ist. Die Herausgeberinnen lassen der Nazi-Unzeit das „Musikland DDR“ folgen. Matthias Tischer holt mit Bekanntem sehr weit aus, markiert dann aber Bemerkenswertes und Dresden-Spezifisches: zum Beispiel einen „eigentümlichen Konsens“ zwischen sowjetischen Besatzern, Bürgertum und Arbeiterklasse, Klassik zu schützen und Amüsement zu bannen; oder die moderne, skeptische Grundhaltung in der Stadt und die Lage im „Tal der Ahnungslosen“ (ohne Westfernsehen) als Möglichkeit und Bedingung für den Erhalt des Dresdner Klangs.
Ob die DDR wirklich ein „Musikland“ war (so wie auch lange das „Leseland“ beschworen wurde), müsste einmal genauer analysiert werden. Tischer bietet vieles zum Nachfragen und -forschen und stellt klar: Im Kalten Krieg verweigerten Ost und West den Komponisten des jeweiligen Gegners Bühne und Gehör.
Die Wende kommentiert das Foto eines Mauerrestes mit der Schriftzeile „Die DDR hat’s nie gegeben“. Solche sprechenden Bilder sind eine prägnante Konstante des edelblauen Buches, das Carsten Hinrichs hinreißend und überzeugend gestaltet hat. Von roten Seiten mit wichtigen Zitaten bis hin zu chic, aber schnörkellos angeschnittenen Zahlen und Lettern reicht dessen Repertoire.
Die wunderbare Wandlung des Kulturpalasts vom „Schuhkarton“ zur akustischen Wohlfühlheimat der Philharmonie zieht sich in Bild und Wort durch den ganzen Band. Die Weinbergterrassen des neuen Saales allerdings werden als „Ausdruck demokratischer Hörkultur“ allzu hoch gehängt.
Darüber hinaus bietet das Buch eher Amüsantes zu Musik in der Dresdner Architektur: Heinz von Loesch hört aus drei Einspielungen von Beethovens fünfter Symphonie „antiheroische Lesarten“ heraus. Als „kurz und knackig“ beschreibt hier ein Musiker die Arbeit Marek Janowskis mit der Philharmonie. Das gilt auch für dieses lesens- und sehenswerte Jubiläumsbuch.
Ute Grundmann