Frank Martin und Xavier Dayer

Journey to Geneva

Estelle Revaz (Violoncello), L’Orchestre de Chambre de Genève, Ltg. Arie van Beek

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Solo Musica
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 73

Genf ist ihre Wahlheimat, und dieser „ville ouverte“ widmet die junge Cellistin Estelle Revaz eine CD-Produktion, die – wie das Book-
let verrät – 2020 unter schwierigen Lockdown-Bedingungen stattgefunden hat, gleichwohl aber beredt vom weltoffenen Charakter der Westschweizer Stadt erzählt. Es erklingt Musik zweier in Genf geborener Komponisten: das Cellokonzert und die Ballade von Frank Martin (1890-1974) sowie Lignes d’Est,
eine vom Orchestre de Chambre de Genève in Auftrag gegebene und der Solistin gewidmete Komposition des 1972 geborenen Xavier Dayer. Das Bemerkenswerte: Über mehrere Generationengrenzen hinweg werden Verbindungslinien zwischen Martin – einem geistig eigenständigen Klassiker des mittleren 20. Jahrhunderts – und dem Zeitgenossen Dayer hörbar. Beiden Komponisten eignet ein außergewöhnlicher Sinn für Farben, und beide vermögen divergierende stilistische Anregungen in ihre persönliche Idiomatik einfließen zu lassen.
Martin berichtet, wie schwer es ihm fiel, um 1960 nach Vollendung seiner Mystères de la Nativité und ihrer engelsgleichen Diatonik zurückzukehren zur dissonanzreichen Tonsprache früherer Werke. Das bereits begonnene Cellokonzert blieb mehrere Jahre liegen, sein Ur-Einfall, eine modale Melodie, blieb jedoch als Keimzelle erhalten. Am Ende (1965) stand ein dreisätziges Werk, das souverän das Spektrum von schlichter Linienführung bis zu chromatisch-komplexen Klängen durchschreitet und bisweilen ein gehöriges Quantum Jazz (inklusive Klavier und Saxofon) anklingen lässt. Nicht ganz so kontrastreich, doch ebenfalls zwischen Lyrik und Dramatik changierend präsentiert sich Martins Ballade (1949).
Mit der Titelgebung Lignes d’Est möchte Xavier Dayer mögliche Wege des Zuhörens suggerieren. Neben flüchtigen Linien, die sich in eine unaufhaltsame Richtung bewegen, signalisiert das Wort „Est“ (Osten) nicht zuletzt Assoziationen an rumänische Volksmelodien, die gleichwohl nirgends konkret zitiert werden.
Estelle Revaz – nach Studien in Paris und Köln mittlerweile eine international gefragte Solistin und Kammermusikpartnerin – gestaltet die farbreichen Celloparts der Werke souverän. Lyrik und blühende Kantabilität gelingen ihr ebenso wie temperamentvolle Attacken und subtil ausgehörte Pianissimi. Bereits mit den ersten, herrlich ausschwingenden Tönen der modalen Ur-Melodie nimmt sie uns „auf’s Angenehmste“ gefangen. Die nicht geringen technischen Anforderungen, die Martins Werke an Cellistenhände stellen – ausgedehnte Doppelgriffpassagen zu Beginn der Ballade, rasante Tonkaskaden im Finale des Konzerts –, meistert sie glänzend. Ihre Interpretation des Martin-Konzerts ist nachgerade ein Plädo-
yer für die Neuentdeckung dieses großartigen, völlig zu Unrecht wenig gespielten Werks.
Das Orchestre de Chambre de Genève pflegt einen offenen Klang und einen geradezu federnden Gestus. Unter der Leitung seines Chefdirigenten Arie van Beek begleitet es gleichermaßen präzis wie inspirierend.
Gerhard Anders