Johann Sebastian Bach
Johannes-Passion BWV 245.1 – Erste Fassung 1724
Thomanerchor Leipzig, Akademie für Alte Musik Berlin, Ltg. Andreas Reize
Die 300-Jahr-Feier der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, die 1724 zum ersten Mal in Leipzig erklungen war, wurde im europäischen Musikleben ausgiebig begangen – mit gewiss noch erheblich mehr Aufführungen des Werks als sonst. Dabei erklang in der Regel wohl nicht die Fassung des Werks, die am Karfreitag 1724 in der Nikolaikirche musiziert wurde, sondern in der Hauptsache die Mischversion aus Bachs unvollendeter Reinschrift und den späteren Quellen. Die Sache ist ja auch nicht ganz einfach, denn so ganz schlüssig lässt sich die Urfassung des Werks aus dem überlieferten Notenmaterial nicht rekonstruieren. Es müssen hier und da individuelle Entscheidungen getroffen werden.
In seiner zweiten großen CD-Aufnahme nach der h-Moll-Messe hat Andreas Reize, der 18. Thomaskantor nach Bach, nun die Johannes-Passion in der ersten Version eingespielt – annonciert als weltweit erste Einspielung dieser Fassung.
Doch das ist nicht die einzige Besonderheit dieser Einspielung. Diese entstand in der Thomaskirche und zwar rund um die Bach-Orgel, die hier der Praxis des Barocks folgend als Continuo-Instrument eingesetzt wird. Thomasorganist Johannes Lang spielt den Part – und er ergänzt den Notentext durch viele improvisatorische Elemente in den Rezitativen sowie vor und zwischen den Chorälen. Das ist nur eine Facette einer Wiedergabe, die auf vielerlei Weise auf historische Spielweisen Bezug nimmt. Verzierungen und Appoggiaturen färben und akzentuieren die Rezitative. Auch die Besetzung der Sopran- und Alt-Soli mit Knaben greift auf die Praxis der Bach-Zeit zurück.
Natürlich bietet auch diese Aufnahme kein klingendes Abbild dessen, was 1724 in Leipzig zu hören war, das ist bei aller Umsetzung von alten Spielpraktiken und Besetzungen nicht möglich. Aber diese neue Johannes-Passion erweitert unsere Vorstellung von dem, was damals womöglich beabsichtigt war, durchaus in sehr spannender Weise.
Doch was diese Aufnahme mit den Thomanern und der Akademie für Alte Musik Berlin vor allem ungemein aufregend macht, ist die packende Dramatik des Musizierens und der ebenso beredte wie aufwühlende Gestus. Da gibt es keinen Moment ohne Ausdruck. Und nirgends einen schwerfällig pathetischen Klang. Mit den fulminanten Thomanern und dem Berliner Elite-Ensemble sowie einem jugendlichen und beweglich agierenden Solistenensemble gelingt Andreas Reize ein überaus flexibles und bewegliches Bach-Spiel, das – und das macht den Rang der Aufnahme aus – so faszinierend modern ist. Es ist ein bewegender Bach von heute für heute – und damit genau das Richtige zum 300. Jahrestag dieser sagenhaften Komposition.
Karl Georg Berg