Bach, Johann Sebastian
Johannes-Passion
Sunhae Im (Sopran), Benno Schachtner (Altus), Sebastian Kohlhepp (Tenor), Werner Güra (Tenor), Johannes Weisser (Bass), RIAS Kammerchor, Staats- und Domchor Berlin, Akademie für Alte Musik, Ltg. René Jacobs
Bach hat seine Johannespassion mindestens viermal aufgeführt und dabei zum Teil tief greifende Änderungen vorgenommen. 1724 erklang sie weitgehend in der uns vertrauten Gestalt, ein Jahr später ersetzte er u.a. den Eingangschor durch den Choralsatz O Mensch, bewein dein Sünde groß, den er 1736 in die Matthäuspassion übernahm; der Schlusschoral entstammt einer Kantate. Im Rückgriff auf die Erstfassung begann Bach um 1739 eine Revision der Partitur, die jedoch nach Satz 10 abbricht. 1749 führte Bach das Werk mit teilweise verändertem Text und erweiterter Instrumentalbesetzung auf, ohne jedoch die differenzierten Lesarten seiner Revision zu berücksichtigen. In der Praxis hat sich eine Idealfassung etabliert, die ausgehend von der Ursprungsfassung die Veränderungen von 1739 integriert.
Die vorliegende Einspielung folgt dieser Idealfassung; als Anhang bringt sie die genannten Arien und Choralsätze der Fassung von 1725. Die großen Chorsätze und die Choräle sind mit beiden Chören besetzt, Letztere zusätzlich mit Knabenstimmen. Mit Ausnahme des Evangelisten wirken die Solosänger auch dort mit. Eine sorgfältige Aufteilung in Soli und Ripieni schafft sinnvolle Gliederung und Transparenz.
Bemerkenswert ist die Behandlung der Rezitative: Anstelle der kurzen Akkordanschläge kommt hier mit guten Gründen eine gemischte Praxis zur Anwendung: Je nach Bezifferung, Textgliederung oder Affekt werden die Akkorde ausgehalten, gekürzt oder neu angeschlagen. Im Wechsel und manchmal auch gemeinsam kommen Laute, Cembalo, Orgel, Gambe, Cello und Kontrabass zum Einsatz. Auch das Cello setzt vereinzelt mit Akkorden Akzente eine Praxis, die eigentlich erst im späten 18. Jahrhundert belegt ist. Ob die überaus sorgfältige Einrichtung des Basso continuo mit den Bach verfügbaren Mitteln realisierbar gewesen wäre, ist fraglich; das Resultat jedenfalls ist überwältigend.
Wie wichtig Jacobs die Dramatik der Handlung ist, zeigt er auch, wenn er in die Schlussakkorde der beiden Kreuzige-Chöre eine kleine None als Vorhalt einfügt. Die beiden Violen damore sind sechssaitige Instrumente ohne Resonanzsaiten und offenkundig in G-Dur gestimmt (nicht c-Moll, wie vielfach praktiziert), was den Bach in den 1720er Jahren verfügbaren Instrumenten entspricht; ob sie mit Darm oder, wie im frühen 18. Jahrhundert üblich, überwiegend mit Messing- und Stahlsaiten bezogen sind, erfahren wir leider nicht.
Die Auftakte und Punktierungen der Arie Ach, mein Sinn werden annähernd triolisch rhythmisiert, was dem Satz viel von seiner dramatischen Schärfe nimmt. Dies verwundert umso mehr, als Jacobs ansonsten den Affektgehalt der Musik auf die Spitze treibt. Trotz dieser kleinen Einschränkung ist mit dieser Neueinspielung eine tief bewegende und musikalisch fundierte Interpretation gelungen, an der alle Mitwirkenden gleichermaßen ihren Anteil haben.
Jürgen Hinz