Werke von Dvorák, Brahms, Bach und anderen

Johanna Martzy (Violine) Jean Antonietti (Klavier), RIAS-Symphonie-Orchester, Ltg. Ferenc Fricsay

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Audite 23.424
erschienen in: das Orchester 07-08/2015 , Seite 75

In Zeiten eines schier unüberschaubaren Angebots an aktuellen Tonträgern und Downloads mit technisch perfekten Wiedergaben nicht nur des klassischen Kernrepertoires mag man sich fragen, welchen Wert – über den rein musikhistorischen hinaus – Wiederveröffentlichungen historischer Platten- oder Rundfunkaufnahmen haben. Ganz besonders stellt sich diese Frage im Fall barocker Musik, die im Lichte der Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis inzwischen eben doch komplett anders verstanden, aufgeführt und rezipiert wird. Ist es da wirklich sinnvoll, fast eine ganze CD mit barocken Werken bzw. Bearbeitungen solcher für Violine und Klavier zu füllen?
Die Kunst der in den 1950er und 1960er Jahren hochgeschätzen und mit den besten Orchestern und Dirigenten der Welt konzertierenden Geigerin Johanna Martzy lässt diese Frage zwar nicht gänzlich verstummen, der Faszination eines so schnörkellosen wie offenen und klaren Violinspiels kann man sich aber spätestens nach einer Viertelstunde nicht mehr entziehen. Johanna Martzys Bach und Händel sind konturenreich, aber nie überzeichnet, die Bearbeitungen von Werken Vivaldis und Fioccos alles andere als aus der Zeit gefallene musikalische Albumblätter. Und wenn es dann zum Ende der zweiten CD zu Ravel und de Falla geht, mag man staunen, wie wandlungsfähig diese Künstlerin gewesen ist.
Die große Überraschung hält diese kleine Sammlung in Berlin entstandener historischer Anfahmen aus den Jahren 1953 bis 1966 allerdings schon ganz am Anfang bereit: Antonín Dvoráks Violinkonzert, in dem Martzy vom RIAS-Symphonie-Orchester unter Ferenc Fricsay begleitet wird – ein musikalisches „Dream Team“, das ein paar Tage nach dem Entstehen der jetzt bei Audite veröffentlichten Aufnahme dasselbe Violinkonzert mit großem Erfolg für die Deutsche Grammophon einspielte.
Dvoráks dreisätzigem Klassiker verleiht die 1924 in Timi?oara (Temeschwar) geborene Banaterin Martzy eine überragende Klarheit, veredelt ihn mit traumhaft sauberer Intonation und einem geradezu wegweisend durchgeformten Geigenton. Hätte die Aufnahme nicht den einzigen Nachteil, historisch gesehen „gerade noch“ mono produziert worden zu sein, sie müsste sogleich als Referenz gelten. Trotz dieser kleinen Schwäche lässt sich mühelos erhören, welch körperreichen und tragfähigen Ton Johanna Martzy Dvoráks Violinkonzert mitgibt. Da ist jede Note, jede Phrase perfekt angesetzt, sind Akzente sauber in den musikalischen Fluss eingebettet und virtuose Passagen „cool“ und entspannt durchgestaltet. Nach einer guten halben Stunde Demonstration überaus faszinierender Technik und beeindruckender Musikalität hat man fast schon vergessen, dass man diesen Dvorák von Johanna Martzy und Ferenc Fricsay am liebsten in stereo und digitaler Aufnahmetechnik in der eigenen Plattensammlung wüsste.
Daniel Knödler