Bernd Kortmann/ Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona

Unsere Welt nach der Pandemie. Perspektiven aus der Wissenschaft

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transcript
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 58

„Die Welt nach Corona hat bereits begonnen“, finalisiert Nadia Al-Bagdadi ihren Text „Grenzerfahrungen“ für den zweiten Teil der Aufsatzsammlung zur Pandemie und ihren Folgen. Die Anthologie zeichnet für Lebens- und Wirtschaftsformen der Kultur ein aschgraues Bild. Mit einer Diskussion über die gegenwärtige und post-coronale „Systemrelevanz“ von Kultur halten sich Herausgeber und Autoren nicht auf. Zwischen den Überkapiteln „Religion – Kirche – Philosophie“, „Politik – Wirtschaft – Staat“ sowie „Wissenschaft, Erkenntnis und ihre Kommunikation“ gibt es keine Erwähnung von jenen gestaltenden Ausdrucksmöglichkeiten, die subventionierte oder freie Diskurse paraphrasieren, reflektieren und verbreiten.
Bereits im Juli 2020, zum Redaktionsschluss, ist Kultur in dieser Textsammlung und für deren Herausgeber – den Linguisten Bernd Kortmann und den Volkswirtschaftler Günther G. Schulze – nur zu einem verschwindend geringen Anteil präsent. Dies also fast vier Monate vor der Definition von Konzert und Bühne als temporär untersagte „Freizeitakti-vitäten“ bei gleichzeitiger Gestattung von Gottesdiensten im partiellen Lockdown ab 1. November. Sie fehlt sogar im Aufsatz „Der Arbeitsmarkt nach der Covid-19-Pandemie“ – Bernd Fitzenberger erwähnte immerhin „Veranstaltungen“ und „Tourismus“. Allenfalls Belletristik fließt ein, weil sich die Seuchen-Tableaus in Albert Camus’ Pest und Alessandro Manzonis Roman Die Verlobten gut als zitierfähige Speicherorte des poetischen Gedächtnisses machen.
Bitter ist die Beobachtung, dass die Literaturwissenschaftlerinnen Eva von Contzen und Julika Griem in „Liste und Kurve: Die Macht der Formen“ die Bedeutung von Literatur- und Kulturwissenschaft nach einem kurzen Hinweis auf deren Relevanz in der „Frage nach dem Aufforderungscharakter von Formen“ verallgemeinern: „Sehr oft wird, um anzuzeigen, dass aus der Krise gelernt werden muss, ein Kulturwandel gefordert – in der Wissenschaftskommunikation ebenso wie in der Fleischindustrie.“
Band 1 des Corona-Projekts aus dem Transcript-Verlag schaffte es in die Sachbuch-Bestenliste vom September (Deutschlandfunk Kultur, ZDF, Die Zeit) und Oktober 2020 (Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, ORF-Radio Österreich 1 und WDR 5). Auch in Band 2 finden sich viele indirekte Strategie-Empfehlungen für Kultur- und Kreativwirtschaft für ihren möglicherweise letzten Überlebenskampf. Denn beim hier gebündelten Wissenskonglomerat spielt Kultur nicht nur keine erste Geige, sondern gar keine.
Ein wichtiger Strang der Zivilisation wird gewiss nicht in negativer Absicht verdrängt – diese Behauptung wäre ein paradigmatischer Fall von praktiziertem Glauben an eine Verschwörungstheorie, wie im spannenden Beitrag von Michael Butter zu lesen. Wohl aber wird, wenn man diese „Perspektiven aus der Wissenschaft“ ernst nimmt, Kultur als Veranstaltungs-, Versammlungs- und Diskursform zwar nicht verfolgt oder verdrängt, aber gründlich und nachhaltig vergessen. Global.
Roland Dippel