Karol Berger

Jenseits der Vernunft

Form und Bedeutung in ­Wagners Musikdramen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: J.B. Metzler/Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 60

Es ist kaum möglich, auf nur zwei Spalten die Qualitäten dieses in Teilen außerordentlich gelungenen Buches zu würdigen, auf der anderen Seite aber auch Dinge anzusprechen, die weitere Fragen aufwerfen, beim Lesen irritieren oder die konzeptionell nicht bzw. nicht hinreichend überzeugen. Vor allem anderen ist festzuhalten, dass Karol Bergers Wagner-Buch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Ring des Nibelungen, von Tristan und Isolde, der Meistersinger sowie Parsifal darstellt – in der Gründlichkeit der formalen und textlichen Analyse hat das Buch in den letzten Jahren kaum ein Pendant.
Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er sich besonders intensiv um die Form der Werke bemüht, bekanntlich ein Minenfeld in der analytisch geprägten Wagner-Literatur. Aber hier fangen auch schon die Probleme an: Die historischen Formanalysen von Alfred Lorenz (und ihre problematische Rezeptionsgeschichte!) werden offenbar implizit als bekannt vorausgesetzt, in Bergers Buch jedenfalls nicht kritisch-systematisch diskutiert. Überhaupt wirft die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zahlreiche Fragen auf, wenn z. T. wenig wirkmächtige Schriften nicht selten in extenso diskutiert werden, auf der anderen Seite aber wichtige Diskussionsbeiträge, etwa von Peter Wapnewski zur Ring-Dichtung oder von Martin Knust zu Wagner als Dramatiker, keine Berücksichtigung finden.
Mag dies ein wohlfeiler Einwand sein, so ist die frappierend konsequente Anwendung von Termini aus der italienischen Operntradition auf Wagners musikalische Formen und Gestalten – etwa in Tristan und Isolde – mehr als gewöhnungsbedürftig und bisweilen abwegig, etwa die postulierte zweiteilige „Cabaletta“ „O ew’ge Nacht“ im zweiten Akt. Dass Analogiebildungen dieser Art zu weit gehen, hätte ein schärferer Blick auf Wagners Orchesterbehandlung gerade in den hier untersuchten Werken deutlich gemacht, die mit italienischer Orchestertradition nun wirklich nichts (mehr) zu tun hat.
Unverständlich ist auch die ­Titelgebung des Bandes: Gerade wenn, bisweilen verblüffend deutlich und überzeugend, nachgewiesen wird, wie planvoll und überlegt Wagner seine Hauptwerke in ihrer Form konzipiert hat, dann ist das ja wohl ausdrücklich ein Ausweis von Vernunft und nicht „Jenseits der Vernunft“. Und was ist „Bedeutung in Wagners Musikdramen“? Das semantisch vorbelastete Begriffspaar „Form und Bedeutung“ hat bekanntlich eine andere Herkunft und Geschichte. Hier ist offenbar, ganz einfach, die Bedeutung der Form gemeint.
Die Ausführungen zur zeitgenössischen Philosophie sind ziemlich schwere Kost; manches in den Werkbesprechungen kommt dagegen bemerkenswert locker, bisweilen flapsig daher. Trotzdem: Man kann dem Interessierten die Lektüre des Buchs nur empfehlen, gerade wegen der hier, freilich nur ansatzweise, geschilderten Ansätze zum eigenen kritischen Weiterdenken.
Ulrich Bartels