Brügge, Joachim

Jean Sibelius

Symphonien und symphonische Dichtungen. Ein musikalischer Werkführer

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. H. Beck, München 2009
erschienen in: das Orchester 01/2010 , Seite 67

Jean Sibelius’ Orchesterwerke sind viel zu wenig bekannt. Außer der 2. und 5. Sinfonie sowie den Symphonischen Dichtungen “Finlandia” und “Der Schwan von Tuonela” taucht selten ein Stück auf hiesigen Konzertprogrammen auf. Deutschsprachige Literatur über den finnischen Komponisten gibt es kaum. Allein aus diesem Grund ist der bei Beck erschienene Werkführer des Salzburger Mozarteum-Professors Joachim Brügge eine willkommene Bereicherung. Knapp und verständlich geschrieben, bietet er einen hervorragenden Überblick über alle sieben Symphonien und die Symphonischen Dichtungen.
Nach einer „biografischen Notiz“ über Sibelius wird der „gattungshistorische Kontext der Symphonien“ beleuchtet. Vorurteile gegenüber seiner Musik stellt Brügge richtig. So hatte Theodor W. Adorno bei Sibelius die mangelnde Entwicklungsfähigkeit und Statik der Themen beklagt. Zusammen mit dem angeblichen „nordischen Ton“ seiner Symphonien wurde dies jahrzehntelang in Konzertführern unkritisch abgeschrieben. Erst neuere wissenschaftliche Untersuchungen, etwa von Wolfram Steinbeck, schufen da Abhilfe und betonten Sibelius’ Rang als eigenständiger Symphoniker. Darauf bezieht sich auch Brügge, wenn er die 1898 bis 1924 entstandenen Symphonien als Prozess zwischen „Konstituierung der Gattung“ (1. Symphonie) und „Symphonie auf neuen Wegen“ (3., 6. und 7. Symphonie) versteht. Außergewöhnliche lyrische Lösungen bieten die 2. und 4. Symphonie, die 5. kehrt zur stringenten Finalanlage in „großer Tongebung“ zurück. Die Werke bewegen sich zudem im Spannungsfeld von symphonischer Mehrsätzigkeit und Einsätzigkeit, ein Konflikt des 19. Jahrhunderts, den Sibelius kreativ zu nutzen wusste.
Brügge stellt heraus, dass sich Sibelius seit seinen Studienzeiten in Berlin und Wien sowohl mit Beethovens Konzept einer Vokalsymphonie (Kullervo op. 7) als auch mit Bruckners Entwicklungsform auseinandersetzte (als Zuhörer der Uraufführung der 3. Symphonie, 3. Fassung, 1890). Klassisch-romantische Formmodelle wie der Sonatensatz werden mit innovativen Ideen bereichert (strukturell wie klanglich). So wurde Sibelius „ein die europäische Moderne vorbereitender Komponist und Symphoniker“.
Brügge macht dies auch im Detail deutlich. Jede Symphonie wird in einer Analyse vorgestellt. Auf Traditionsanbindungen wie die Beethoven-Anspielungen im Scherzo-Satz der 1. Symphonie wird ebenso hingewiesen wie auf das apotheotische Finale der 7. Symphonie: „Man könnte so wahrhaft den Eindruck gewinnen, als ob Sibelius, unter Aufbietung seiner letzten Kräfte, das Satzende nur dadurch zu bewältigen imstande war, dass er die symphonischen Lösungen der letzten Symphonien hier noch einmal mit Macht zusammenführte.“ Die Symphonischen Dichtungen werden anschließend knapp charakterisiert. Wichtige Beobachtungen wie die Nachbarschaft von “Die Dryade” op. 45/1 zur 4. Symphonie deutet Brügge dabei nur an. Ihm gelingt ein wichtiger Werkführer, der endlich eine schmerzliche Lücke schließt.
Matthias Corvin