Jean Françaix 100

3 CDs

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 69562
erschienen in: das Orchester 04/2013 , Seite 75

Welch eine weitgespannte Erfindungsgabe in nur sechs Jahren, zwischen 1936 und 1942: Der 24-jährige Jean Françaix porträtiert musikalisch junge Damen, der 30-Jährige vertont die Apokalypse nach Johannes! Auf diesen drei Wergo-CDs finden sich die fünf Mädchen-Bilder, deren letztes, „die Moderne“, ihm wohl in einem Pariser Jazzlokal begegnet sein mag, nicht aber das Oratorium.
Doch sollte man es bei allen zwanzig Titeln dieser Sammlung „mithören“, um zu erspüren, wie ein zeitgenössischer französischer Ausnahmemusiker das, was er in Friedenszeiten, in zwei schrecklichen Kriegen und danach erlebte, nämlich viel bedrückendes Dunkel, durch hoffnungsfrohe Lichtfülle in eigener Klangsprache so auszugleichen sucht, wie Worte das nicht können. In diesem Querschnitt durch sein Kammermusik-Œuvre begegnen mir wiederaufgelegt LP- und CD-Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1977 und 1997, von denen ich damals einige nach ihrer Veröffentlichung für FonoForum besprochen habe – der Startrompeterin Carole Dawn Reinhart bin ich seinerzeit auch begegnet.
Obwohl hier nur ein kleiner Teil seines immensen Schaffens präsentiert wird, vermittelt die Fülle des Gebotenen das facettenreiche Werk eines Musikers, der – krassen Modernismen seiner Zeit abhold – durch eine streng ausgeformte glanzvolle Fassade mit fantasiereicher Spontaneität, Unbekümmertheit, mit Witz, sogar Frechheit, stets überraschend originell – etwa mit einem lustigen Petite Valse Européenne für Tuba und Bläser! – eine gleichwohl überall durchscheinende tiefe Sehnsucht nach dem stets angestrebten griechischen Ideal „Kalon k’agathon“ [Das Schöne und das Gute] der menschlichen Natur hinter allem Schlimmen, Verstörten aufscheinen lässt. Kein Wunder, dass er immer wieder zu Mozart und dessen luzider Musik findet und in einer hübschen kleinen Miniatur mit schelmischem Hofknicks dessen Don-Giovanni-Serenade von einem Kontrabass singen oder in einer anderen quirlig den Vogelfänger Papageno
vorübertanzen lässt.
Lobenswert einige Fotos des Meisters im Booklet und etliche Live-Ansagen zu eigenem Klavierspiel oder Dirigat der ihm wohlvertrauten Mainzer Bläser, die – wie überhaupt alle hier vereinten Instrumentalisten, nämlich Claude Françaix und Agathe Wanek am Klavier, Ichiro Noda (Kontrabass), Emanuele Segre (Gitarre), Carole Dawn Reinhart (Trompete) und Johann Dvorachek (Schlagzeug) – den vielen unterschiedlichen Werken sehr kunstfertig stets die adäquate Farbe verleihen.
Zum 100. Geburtstag Jean Françaix’ am 23. Mai 2012 verbeugte sich der Schott-Verlag mit diesem klingenden Memento tief vor einem immer noch zu wenig gewürdigten ganz Großen!
Diether Steppuhn