Wolfgang Rihm

Jagden und Formen

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Franck Ollu

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 70

Nicht die unsägliche „wilde Jagd“ Lützows findet hier statt, sondern die wilde Jagd Wolfgang Rihms. Denn von Anbeginn wird Furioso musiziert. Nicht nur heftig bewegt, sondern heftig bewegend. Die im Jahre 2008 erweiterte und hier erstmals auf CD eingespielte sechzehnteilige Komposition aus den Jahren 1995 bis 1996 Jagden und Formen will die Bestandteile nicht als Satzstrukturen im herkömmlichen Sinne verstanden wissen, „sondern anhand der Unterteilung in Taktabschnitte das Verständnis der Struktur erleichtern“, so das Beiheft. Und, wenn ich Rihms Intention richtig verstanden habe, soll man wohl auch nicht allzu sehr über die Komposition (Sinn oder Unsinn?) nachdenken, denn er schreibt in seiner „Einführung“ (die aber gerade dieses nicht sein will und nicht sein soll): „Die einzigen Einführungen, die für Musik etwas bewirken (im positiven wie im negativen Sinn), sind die Ohren der Hörer. Aus purer Freiheitsliebe plädiere ich für äußerst unterschiedliche Ohren. An jedem Kopf sollten mindestens zwei völlig verschiedene Zugänge zu mindestens zwei völlig verschiedenen Hörweisen installiert sein.“ Und er fragt: „Geht das?“ Ein Text, ein Beleg dafür, dass der Komponist auch außermusikalisch über ein gerüttelt Maß an Humor verfügt.
Denn: Musikalischer Humor scheint mir ein essenzieller Bestandteil dieser Jagden und Formen zu sein, in denen die verschiedenen Orchestermusiker:innen, erweitert um Bassgitarre und Klavier, fröhlich, aber auch spannungsvoll und rasend miteinander plaudern. Und Plaudereien haben ja auch im alltäglichen Leben nicht unbedingt festgefügte Strukturen.
Und: Manches kommt einem auch bekannt vor, auch wenn es sicher nicht „geklaut“ ist, sondern eher variiert bzw., nach Art des Komponisten, „übermalt“ dargestellt ist. An einigen Stellen höre ich schemenhaft den symphonischen Satz Pacific 231 Arthur Honeggers heraus, an einer anderen lächelt mir durch den Klangnebel das Presto delirando aus Alban Bergs Lyrischer Suite für Streichquartett zu; auch Růžička scheint sich die Ehre zu geben oder gar Räisänen mit seinen Mirrie Dancers. Und dennoch ist und bleibt alles reinster Rihm, der hier auch eigene frühere Kompositionen „übermalt“ hat.
Derlei Assoziationen haben möglicherweise mit meinen völlig unterschiedlichen Ohren und ihrer „Freiheitsliebe“ zu tun … Oder, um es noch einmal mit Wolfgang Rihm selbst zu sagen: „Jeder hört sowieso was er kann. Ein Komponist, der das Hören für seine Musik erst erfinden muss, ist arm dran, aber unermesslich reich.“ Wieder so ein Satz zum Schmunzeln …
Eine Musik, der die unterschiedlich geschalteten Ohren mit jener Freude lauschen, welche die musizierenden orchestralen Vir­tuos:innen da ganz offen an den Tag legen. Ein bleibendes Meisterwerk, gewissermaßen ein Pullover, aus dessen aufgeribbelter Wolle ein neuer, beeindruckenderer gestrickt wurde.
Friedemann Kluge