Alexander Flores

Jacques Offenbach und sein Werk bei Siegfried Kracauer und darüber hinaus

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Westfälisches Dampfboot
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 64

Manchmal gibt es Wiederaufführungen von Bearbeitungen bedeutender Kompositionen, zum Beispiel von Richard Wagners 1847 uraufgeführter Einrichtung von Glucks Iphigenie in Aulis durch „Das Neue Orchester“ unter Christoph Spering. In der Sachliteratur über Musik dagegen ist die Reflexion anhand der Analyse älterer Literatur noch unüblich – auch wenn sie manchmal sinnvoll wäre, wie Alexander Flores mit vorliegendem Buch verdeutlicht.
Flores ist ein brennender Offenbach-Liebhaber, gegen den man den Vorwurf subjektiver Vereinnahmung nicht erheben kann. Seine Spiegelung von Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) an neueren Forschungsergebnissen und Repertoirefunden fordert zu einer neuen Wertschätzung dieser in der Offenbach-Literatur noch immer wichtigen Schrift auf. Aber Flores macht auch den selektiven Blick Kracauers deutlich, der gegenüber den großen Erfolgen Offenbachs von Orphée aux enfers (1858) bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 viele andere Aspekte von Leben und Werk des genialen Komponisten und dessen Ausbruchversuche von den Konventionen des Pariser Musiktheaters vernachlässigt hatte.
Einem ersten Teil über Einflüsse, Entstehung sowie biografische und politische Hintergründe von Kracauers Schrift folgt im zweiten eine Definition von Offenbachs Wirken auf Höhe des heutigen Kenntnisstandes – unter Berücksichtigung von Werken wie Fantasio und Die Rheinnixen, die Kracauer nicht kennen konnte. Spannend gerät sowohl die Verortung von Kracauers Offenbach-Buch zwischen Walter Benjamins Charles Baudelaire und Theodor W. Adorno, der sich mit strenger Kritik an Kracauers Buch von dem Einfluss des Autors befreien wollte, als auch auch die Erörterung, ob man Kracauers Verherrlichung des Zweiten Kaiserreichs als antifaschistische Streitschrift verstehen kann.
Unberücksichtigt bleibt, dass zu Kracauers Lebenszeit die Erinnerung an jene Jahrzehnte, als französische Opéras-comiques auch im deutschsprachigen Raum noch Repertoirestücke waren, nicht verblasst war. Die Einordnung von Offenbachs riesigem Lebenswerk von über 100 Bühnenwerken gelingt mit derzeit gängigen Kategorisierungskriterien spannend und profund. Flores versteht Offenbach als genuinen Opernkomponisten, der auf der Suche nach neuen dramatischen und musikalisch fast aphoristisch vereinfachten Formen war.
An mehreren Stellen untersucht Flores die Einflüsse von Offenbachs Lebensumfeld auf sein Werk und dessen Ausstrahlung. Der Geschichts- und Islamwissenschaftler bewegt sich dabei gerne aus dem engeren Kreis der musikalischen, theatralen und musiksoziologischen Betrachtung heraus. Er geht auf Offenbachs Parodieverfahren ein und spürt Kunstgriffen nach, mit denen Offenbach Aktualitätsgehalt erzeugte. Dabei gibt es Überschneidungen zu anderen jüngeren Offenbach-Publikationen. Durch die stetige Vergleichshaltung zu Kracauers Offenbach wird diese Schrift zu einem faktenreichen und inhaltlichen Vergnügen. Roland Dippel