Mark Andre

iv 13 (Miniaturen) / iv 15 (Himmelfahrt) / woher … wohin

Arditti Quartet, Stephan Heuberger (Orgel), Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Matthias Pintscher

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 12/2021 , Seite 81

Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, und glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennenzulernen“: Goethes berühmtes Aperçu vom Streichquartett umschreibt zentrale Prinzipien solchen gemeinsamen Musizierens. Doch das Überlieferte lässt sich glatt vergessen, wenn man Mark Andres iv 13 (Miniaturen) für Streichquartett gehört hat, die der 1964 geborene deutsch-französische Neutöner 2014/17 als Kompositionsauftrag des Arditti Quartets, der „Musica viva“-Konzertreihe des Bayerischen Rundfunks und weiterer Unterstützer geschrieben hat. Der Livemitschnitt dieser und anderer Uraufführungen des Avantgardisten aus jenen Jahren liegt nun als # 37 der „Musica viva“-CD-Edition vor.
Dem Booklet ist zu entnehmen, dass der Titel iv eine Abkürzung für „introvertiert“ ist. Und das sind nicht nur die zwölf Miniaturen, sondern auch die anderen Stücke auf dieser Silberscheibe. Sie stehen kompositionstechnisch in der Tradition der schulbildenden Darmstädter Ferienkurse. Nach deren Dogmen heißt es u. a. „Nichts wird verwendet, wie es erscheint, alles wird verwandelt“ – in die Stille hinein, aus der Stille heraus. Und so bricht in den Miniaturen kontrastbetontes, katastrophisches „Sirenengeheul“ auf den Hörer herein und assoziiert herumrennendes, gerüchteverbreitendes Volk gleichsam als höchst gegenwärtige Wirkung der Verleumdungsarie aus Rossinis Barbier von Sevilla. Floskelhaftes, Glissando- und „Säge“-Effekte, anfliegende Flugzeuggeschwader oder anfahrende S-Bahnen und andere effekthascherische Zutaten, wohin man nur hört. Was man längst für überwunden glaubte, bestimmt nun die mit Verve gespielten, teils bruchstückhaften, teils atemhauchenden Aufgaben der engagierten Klangarbeiter.
Von avantgardistischem Geist durchdrungen ist auch das Orgelstück Himmelfahrt, geschrieben im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland und finanziert von der Siemens-Musikstiftung. In ihm sucht Andre das irdische Verlassen Jesu durch das Entschwinden von Klang einprägsam zu gestalten. Aus wabernder Pedaltiefe der Beckerath-Orgel der Münchener Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig führt Organist Stephan Heuberger das mystische Geschehen in den transzendentalen Glanz der Diskantregister, setzt auf reichlichen Gebrauch des Tremulanten, schildert mit extremem An- und Abschwellen das Entsetzen und den Schrecken der Jünger Jesu. Gewaltige Klangeruptionen sorgen für staunenswerten Furor.
Das siebenteilige Orchesterwerk woher…wohin – auch ein Auftragswerk der „Musica viva“ – ist durch das Symphonieorchester des Bayeri-schen Rundfunks unter Leitung von Matthias Pintscher ebenfalls – wie die Miniaturen – im Herkulessaal der Münchener Residenz uraufgeführt worden. Aus fragilen Klangpartikeln, Geräuschen, mikrotonalen Zutaten (sowohl entschwindenden als auch herannahenden) entstehen existenzielle Erfahrungsräume, die von subtilen bis eruptiven Veränderungsprozessen geprägt sind. Das Ergebnis ambitionierten Musizierens sind Hördramen, denen man sich nicht entziehen kann.