Antje Rößler
„Italiens nördlichstes Opernhaus“
Die Opéra Royal de Wallonie im belgischen Lüttich präsentiert eine neue Doppelspitze
Zuerst läuft ein aufwändiger Werbespot des Opernhauses – Hochglanzaufnahmen und mitreißende Rossini-Klänge. Dazu passt die edle, hundertseitige Pressemappe. Nicht zuletzt macht der Ort dieser Pressekonferenz etwas her: Die „Königlich Wallonische Oper“ aus dem belgischen Lüttich hat nach Berlin in die belgische Botschaft geladen.
Der Anlass rechtfertigt solchen Glanz, ist doch die Opéra Royal de Wallonie, salopp ORW abgekürzt, in Feierlaune. Die Pandemie hatte die Jubiläumsspielzeit stark beschnitten, weshalb erst jetzt so richtig die Sektkorken zum 200-jährigen Bestehen des 1820 gegründeten Opernhauses knallen.
Außerdem präsentiert sich in Berlin die neue Leitung des Hauses: eine „italienische Doppelspitze“ mit dem neuen Chefdirigenten Giampolo Bisanti sowie Stefano Pace als Intendanten. Die Ausschreibung des Intendantenpostens wurde vorfristig notwendig, da Paces Vorgänger Stefano Mazzonis di Pralafera im Februar 2021 verstarb.
In Berlin moderierte der Musikkritiker Manuel Brug die Veranstaltung. Zunächst stellt er Stefano Pace vor, der im Oktober 2021 mit der Intendanz auch die künstlerische Leitung in Lüttich übernommen hat. Pace ist von Haus aus Architekt. Er hat für Theater und Opern in aller Welt als Bühnenbildner gearbeitet. Seit 2015 ist er zudem Generalintendant des „Teatro Lirico Giuseppe Verdi“ im norditalienischen Triest.
Das Opernhaus in Lüttich wurde 1820 eröffnet und ist damit sogar ein paar Jahre älter als der belgische Staat selbst. Das Baugrundstück stellte König Wilhelm von Oranien zur Verfügung, zu dessen Reich Lüttich damals gehörte. Die Eröffnung des Hauses ging mit einer populären Ballettoper von André-Ernest-Modeste Grétry über die Bühne, der aus Lüttich stammt. Auf dem Platz vor dem Opernhaus steht eine Grétry-Statue, in deren Sockel das Herz des Komponisten bestattet ist.
1852 ging die Oper in kommunales Eigentum über. Fortan nahmen die Kohle- und Stahlbarone der damals schwerreichen Industriestadt in den Logen Platz.
Heute lässt Lüttichs Opernhaus, das sich in bester Innenstadtlage befindet, keine Wünsche offen. Die klassizistische Fassade ist geblieben; ebenso Samt und Plüsch im Theatersaal mit seinen rund tausend Sitzplätzen. Hinter den Kulissen schnurrt modernste Technik, wurde doch das Haus bis 2012 generalsaniert und spektakulär aufgestockt. Die Lamellenfassade eines auf den Altbau gesetzten Kubus verbirgt Probenräume, Werkstätten und Büros.
Die Opéra Royal de Wallonie ist eines von drei Opernhäuser Belgiens, neben La Monnaie in Brüssel sowie den beiden Standorten der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent. Seit 2007 pflegte der langjährige Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera eine ausgesprochene Italianità an der Wallonischen Oper, die auch schon als „das nördlichste Opernhaus Italiens“ bezeichnet wurde. „Damit hat man sich aber auch ein Alleinstellungsmerkmal unter den belgischen Opernhäusern erarbeitet“, stellt Manuel Brug fest. „Die anderen beiden folgen eher dem deutschen Regietheater-Stil.“
Die Oper in Lüttich bringt Staggione-Produktionen auf die Bühne, für die jeweils Gast-Gesangssolisten eingeladen werden. Ein eigenes Solisten-Ensemble existiert nicht. Das eigentliche Herz dieses Hauses sind also das Opernorchester und der Chor.
Neuer Chefdirigent ist der Mailänder Giampolo Bisanti. Er folgt auf Speranza Scappucci, die ihren im Sommer 2022 auslaufenden Vertrag nicht verlängerte. Bisanti ist seit 2016 Musikdirektor im süditalienischen Bari und gastiert an renommierten Häusern. In der Wallonischen Oper hat er in den vergangenen Jahren bereits bei drei Inszenierungen im Graben gestanden.
Lüttich befindet sich im Einzugsbereich von Frankreich, Luxemburg, Deutschland und Holland. Dem Publikum von außerhalb wird der Opernbesuch leicht gemacht, lässt sich doch das Geschehen auf der Bühne mit Übertiteln in vier Sprachen verfolgen: Französisch, Niederländisch, Deutsch und Englisch.
In Berlins belgischer Botschaft hat man sich auch eingefunden, weil man mehr Besucher aus Deutschland anlocken will. „Lüttich liegt nahe der deutschen Grenze. Fünf Prozent unseres Publikums kommen aus Deutschland“, sagt der Intendant Stefano Pace, der Kooperationen mit deutschen Häusern plant. „Wir wollen unser Repertoire erweitern und in Zukunft auch das eine oder andere Werk der deutschen Operntradition auf die Bühne bringen“, so Pace. In der gegenwärtigen Spielzeit, die überwiegend von Paces Vorgänger geplant wurde, komme das aber noch nicht zum Tragen.
Den Saisonauftakt machte Ende August ein Internationaler Wettbewerb für Operndirigenten, den die Oper Lüttich 2017 lanciert hat. Alle Runden finden öffentlich statt. Anschließend stehen 2022/23 neun Inszenierungen auf dem Programm, die jeweils rund zehn Tage laufen. Den Anfang macht ab 20. September Lakmé – also indisch-exotischer Stoff mit Musik des französischen Romantikers Léo Delibes. „Dafür haben wir das Ballett aus Kiew eingeladen“, erzählt Stefano Pace. „Das bleibt nun eine Leerstelle; wir wollten es nicht ersetzen.“
Ende Oktober darf sich das Haus mit Rossinis Il Turco in Italia, einer großen und aufwändigen Produktion, in einem Kraftakt beweisen. Ende November läuft als Koproduktion mit dem Nationaltheater von Peru das Inka-Drama Alzira, das Dirigent Bisanti als eine der „seltensten und besten Verdi-Opern“ bezeichnet; Regie führt der Peruaner Jean Pierre Gamarra. Im nächsten Jahr folgen dann unter anderem: Hamlet als große französische Oper von Ambroise Thomas, Belcanto-Opulenz mit Francesco Cileas Adriana Lecouvreur, die Verdi-Rarität I Lombardi alla prima crociata sowie Francis Poulencs Dialogues des Carmélites, ein Klassiker des 20. Jahrhunderts.
Außerdem gibt es hochkarätig besetzte konzertante Aufführungen: Am 5. November kommt Plácido Domingo zu einem Galakonzert. Am 28. November geht Mozarts La Clemenza di Tito konzertant über die Bühne; mit Cecilia Bartoli in der Rolle des Sesto.