Evan Johnson

Inscribed, in the center: „1520, Antorff“

für Streichquartett, Stimmen/ Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Gravis
erschienen in: das Orchester 02/2020 , Seite 63

Der zunächst rätselhaft erscheinende Titel, den der Amerikaner Evan Johnson (*1980) seinem 2014 entstandenem (und im selben Jahr bei den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt vom Mivos Quartet uraufgeführten) Streichquartett gegeben hat, verweist auf die Impulse, die den Komponisten zur Konzeption des Werks bewogen haben.
Bezugspunkt ist eine mit der Orts- und Zeitangabe „1520, Antorff“ versehene Skizze einiger Fischerboote im Hafen, die Alfred Dürer während seines Aufenthalts in Antwerpen gemacht hat. Am Beginn der Partitur in guter Qualität reproduziert, verweist sie die Interpreten auf das, was den Komponisten eigentlich interessiert: auf den Kontrast zwischen unterschiedlich fein ausgeführten Bilddetails in Vorder- und Hintergrund und jenen unbestimmten, weil lediglich aus leeren Flächen bestehenden Bildelementen, die an Stelle von Himmel, Wasser und Land das eigentliche Schwergewicht, den „negativen Raum“ der Skizze bilden.
In klanglicher Analogie zum Verhältnis zwischen Linienführungen und unberührten Papierflächen in Dürers Bild lokalisiert Johnson seine schattenhaft-verhuschte, aber gestisch reiche Musik am Rand der Stille, von wo aus sie dem Hörer immer wieder entgleitet, zumal – wie im Vorwort der Partitur beschrieben – die Musiker auf der Bühne so eng wie möglich zusammenrücken sollen, um ihre gegenseitige physische Präsenz spüren. Darüber hinaus werden sie durch die spezifische Notation ihrer Stimmen vor enorme Herausforderungen gestellt: Eingepasst in eine spezielle Art der „space notation“, in welcher die räumliche Dimension der Partiturseite über die rhythmischen Dauern Aufschluss gibt, finden sich komplexe spieltechnische Festlegungen für die getrennt notierten Parameter von linker und rechter Hand, die bis in feine Details wie Finger- und Bogendruck oder Bewegungsaspekte hinein akribisch aufgeschlüsselt sind. Der damit einhergehende hohe Grad an Determiniertheit erzeugt bei der Aufführung eine bisweilen extreme Aktionsdichte, die vom Komponisten ganz bewusst als Hindernis für die Erzeugung klarer Artikulationen eingesetzt wird.
Letzten Endes schreibt Johnson also eine Musik, die den Aufeinanderprall von Dichte und Zurückhaltung thematisiert, die es daher auch darauf anlegt, nicht nur gehört, sondern auch gesehen zu werden. Denn nur dann kann sie ihre Wirkung zwischen notierter Komplexität, klanglicher Erscheinungsweise und konkreter Aufführungssituation entfalten und die Diskrepanzen aufzeigen, die zwischen unterschiedlichen Modalitäten der Wahrnehmung bestehen.
Das vom Verlag veröffentlichte Material, bestehend aus der Partitur und vier damit identischen Spielpartituren, ist handschriftlich notiert, was den Notentext visuell zu einer sehr ansprechenden Angelegenheit macht. Das ausgedehnte Partiturvorwort, dessen genaues Studium für eine Einstudierung der Komposition unbedingt notwendig ist, liegt lediglich in englischer Sprache vor.
Stefan Drees