Roland H. Dippel

Innsbruck: Vitale Entdeckungen

Die 46. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik mit Graun und Pallavicino

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 44

Betreffend Opern-Ernte gerieten die 46. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik schon mit den zwei ersten Titeln, Silla und L’amazzone corsara, zu einem edlen Jahrgang. Das lustvolle Lehrprogramm über Spätrenaissance, Hochbarock und Frühklassik garnieren Intendant Alessandro De Marchi und Betriebsdirektorin Eva-Maria Sens mit De-luxe-Konzerten. Es folgte mit Giovanni Bononcinis Astarto (London 1720) ein ebenbürtiges drittes Projekt.
Im Dramma per musica Silla des preußischen Kapellmeisters Carl Heinrich Graun (Berlin 1763) bestaunte man neben den vier Countertenören Bejun Mehta, Valer Sabadus, Samuel Mariño und Hagen Matzeit einen der spannendsten Opernakte des mittleren 18. Jahrhunderts. König Friedrich II. von Preußen postulierte in seinem von Giovanni Pietro Tagliazucchi ins Italienische übertragenen Textbuch eine utopische Ethik des Herrschens. In seiner Partitur zeigte Graun weitaus größere Vorliebe für Ensembles und Abwechslungsreichtum als um 1760 meist üblich. Eleonora Bellocci glänzte als Ottavia. Mert Süngü charakterisierte den Freigelassenen Crisogono so faszinierend wie Roberta Invernizzi die vor Attraktivität sprühende Mat­rone Fulvia. Alessandro De Marchi inspirierte das Innsbrucker Festspielorchester zu dramatischer Dynamik. Georg Quander (Regie) und Julia Dietrich (Ausstattung) verließen sich weitgehend auf das vokale Charisma des Ensembles.
In den Kammerspielen riss die Produktion von Barock­oper:Jung die vierte Wand zwischen dem abenteuerlichen Spiel und den begeisterten Zuschauern vital nieder. Das aus erstklassigen Teilnehmer:innen des im Rahmen der Festwochen veranstalteten Cesti-Wettbewerbs rekrutierte Ensemble stürzte sich unter dem Farbe und Brio ideal mischenden Dirigenten Luca Quintavalle und dem mit allen Wassern einer feingliedrigen Commedia dell’arte gewaschenen Alberto Allegrezza auf die „Amazonen-Korsarin“ (Venedig 1686) von Carlo Pallavicino. L’amazzone corsara enthält längere Arien und Duette als die Opern Monteverdis, hat aber noch höhere dramatische Geschmeidigkeit als die ernsten Opern des frühen 18. Jahrhunderts. Das Stück nach der Stofffundgrube Gesta Danorum des Saxo Grammaticus erwies sich als Volltreffer. Die Gotenkönigin und Piratenkapitänin Alvilda (Helena Schuback im passgenauen Wechsel von hart und zart) gebärdet sich bei mäßigem militärischen Erfolg als Männerverächterin. Julian Rohde gibt elegisch und stimmschön den König Alfo, ihren sich fünf lange Jahre in erfolgloser Werbung lustvoll verzehrenden Verehrer. Das um die blendende Piratin entfesselte Gerangel resümierte der Literat Giulio Cesare Corradi mit der Quintessenz: „In der Liebe ist jeder Betrug lobenswert.“ Nach dem Alvilda gar furchteinflößend vorstellenden Prolog der Fama (Marie Théoleyre) inszenierte Allegrezza seinem Namen „Frohsinn“ alle Ehre machend so, als hätte Jacques Offenbach ein Märchen der Brüder Grimm vertont. Aus einer Bibliothek springen Figuren der Vorzeit in eine quicklebendige Bühnengegenwart. Neben dem superfeinen Hauptpaar agieren auch alle anderen mit Brillanz und Verve: Hannah de Priest als Gilde mit pragmatischen Intrigen, Shira Patchornik als Kavalier Olmiro mit bravourösen Arien, Rocca Lia als belcantoweicher Bass-Vater, Rémy Brès-Feuillet als Diener Delio mit knackfrischem Countertenor. Zusammen ersingen sie eine Festoper vom Feins­ten.
Im Riesensaal der Hofburg ging es am 16. August nicht nur um Kantaten-Stimmfutter für die umjubelte österreichische Mezzosopran-Durchstarterin Sophie Rennert, sondern auch um virtuose Stars in Händels Londoner Opernorchestern wie die Oboisten Giuseppe Sammartini und Francesco Barsanti oder den Violinisten Pietro Castrucci. Sie werden endlich aus ihrem lemurenhaften Nachleben im Schatten der berühmteren Musikheroen erlöst. Alessandro Ciccolini (Violine), Giuseppe Mulé (Cello) und Giuseppe Falciglia (Oboe) agierten in Claudio Oseles Ensemble Le Musiche Noven bravourös.
Ein nicht sonderlich vorteilhaft gewählter Ort war die Jesuitenkirche für das Konzert „Cons­tantia“. Die lupenreine Intonation des zehnköpfigen Vokal- und Instrumentalensembles La fonte nova kam wegen der mit unterschiedlicher Dauer im Hauptschiff ankommenden Nachhallzeit in akustische Konflikte. La fonte nova sammelte Werke und Komponisten aus der Zeit der Konzile zu Konstanz von 1414 bis 1418, das auch ein Schmelztiegel von Musikensembles aus ganz Europa wurde.
Beim 13. Cesti-Wettbewerb der Festwochen gewannen der Tenor Laurence Kilsby (1. Platz), die Sopranistin Chelsea Marilyn Zurflüh (2. Platz und Publikumspreis) und der Countertenor Nicolò Balducci (3. Platz und Nachwuchspreis). Sie erhalten ein Angebot zur Mitwirkung bei Barockoper:­Jung in Antonio Vivaldis Oper La fida ninfa 2023. Alessandro De Marchi übernimmt in seiner letzten Festwochen-Saison 2023 die Vivaldi-Werke L’Olimpiade und Juditha triumphans. Mit dem Konzert „Virtuosen“ der Accademia Bizantina stellt sich Ottavio Dantone, der neue musikalische Festwochen-Leiter ab Herbst 2023, vor.