Holliger, Heinz

Increschantüm

Gedichte der Luisa Famos für Sopran und Streichquartett, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: das Orchester 06/2016 , Seite 67

Kann man Heimweh hörbar machen? Wenn es für dieses auf Vallader bzw. Unterengadinisch „Increschantüm“ genannte Gefühl Klänge gibt, dann muss die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sein, dass sie – unter den zeitgenössischen Komponisten – von Heinz Holliger gefunden werden. Und damit stünde dann auch schon fest, dass diese Klänge mit volkstümlicher oder Filmmusik so gut wie nichts zu tun hätten. Auch dann nicht, wenn die literarische Vorlage für diese Klänge noch so sehr mit der abgeschiedenen Enge der Schweizer Bergtäler und den darüber aufsteigenden Gipfeln verhaftet ist.
Heinz Holliger spürt auch im vorliegenden, seiner 2014 verstorbeben Frau Ursula gewidmeten Gesangszyklus über Gedichte der Schweizer Dichterin Luisa Famos wieder der engen Bindung zwischen Wort und Musik, zwischen Dichtung und Klang nach, die er in so vielen seiner inzwischen zahlreichen Werke für Stimme(n) und einzelne Instrumente oder Orchester so packend und emotionstief und fast schon prophetisch aufzeigt. In Increschantüm erzählen Sopran und Streichquartett zusammen eine Geschichte, sie „sprechen“ mit einer gemeinsamen, kontrastreich aufgefächerten und vieldimensionalen Stimme. Vielleicht wirken die einzelnen (Streicher-)Stimmen für sich betrachtet gerade deshalb wie solistische Virtuosenstücke, die, auf ein einzelnes Streichinstrument projiziert, gleichsam unmöglich zu kombinieren scheinen.
In der Gesamtschau der Partitur wird aus der Gesangs- und den vier Streicherstimmen dennoch wieder eine Einheit, die (aus instrumentaler Perspektive) durchaus orchestral anmutet. Die vom Sopran vorgetragenen sechs Gedichte werden von den beiden Violinen, der Bratsche und dem Violoncello über- und nachgezeichnet, kommentiert, getragen, kontrastiert, interpretiert und in ihrer Wirkung verstärkt – so sehr, dass man im gedruckten Notenbild abseits von den tatsächlich vorkommenden Wellenmustern das Wogen der Emotionen zu erkennen glaubt.
Für die rund 25 Minuten Spieldauer dieses mit „Liederzyklus“ nur ganz oberflächlich beschriebenen Werks fordert der Komponist fünf bestens gerüstete Musiker, ja eher schon fünf Ausnahmevirtuosen, die sich nicht nur auf eine Klangreise einlassen, die schon einmal beim Geräusch enden kann, sondern die es verstehen, Heinz Holligers hochsensiblen Linienführungen, emotionalen Kehrtwendungen und Kontrast-Überzeichnungen gerecht zu werden. Um das schon optisch beeindruckende Partiturbild in Klang und Ausdruck adäquat umzusetzen, braucht es ganz sicher Künstler wie Anu Komsi und das Zehetmair Quartett, die für die Uraufführung dieser faszinierenden Poesie in Musik im vorvergangenen Jahr in Luzern verantwortlich waren.
Daniel Knödler