Anderson, Julian

Incantesimi

for orchestra, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2016
erschienen in: das Orchester 04/2017 , Seite 63

Zehn Minuten dauert Julian Andersons Incantesimi (Zauberei) für Sinfonieorchester, die nun auch als Studienpartitur vorliegt. Im vergangenen Jahr wurde sie in Berlin von den Berliner Philharmonikern mit Simon Rattle uraufgeführt. Zauberhaft verebbt sie mit einem einzigen übrig gebliebenen, leisen Ton im Englischhorn, dem Ende eines zweitaktigen Solos, das noch ein wenig von den Schlagzeugern begleitet wird.
Auch der Beginn ist getragen und leise – lange, tiefe Töne. Nach und nach kommen mehr Instrumente dazu, entstehen einzelne kurze Kantilenen, die immer wieder vom Englischhorn dominiert werden. Für kurze Zeit verlangt Anderson in diesen solistischen Passagen ein Forte oder Fortissimo, das die Expressivität der Kantilenen steigert, aber es insgesamt aufgrund der spärlichen Besetzung noch nicht laut werden lässt.
Bald schon kommen die Holzbläser aufgeregt flirrend in hohen Lagen dazu, dürfen ins Fortissimo und weben ein dichtes, aber genau bemessenes Geflecht von Tönen. Nach wenigen Takten entwirrt sich dieser dichte Klangteppich, übrig bleibt wieder das Englischhorn über liegenden Tönen der Violinen.
Häufiger wechseln nun dichtere und filigranere Geflechte, sauberst auszuführen und sowohl rhythmisch als auch technisch nicht ganz einfach zu spielen. Triolen der Holzbläser sorgen für Vorwärtsdrang – obwohl dieses Stück insgesamt im sehr ruhigen Tempo zu spielen ist, tritt es niemals auf der Stelle.
Die Streicher folgen in die Triolenpassage, bald schon hat das gesamte Tutti kurzzeitig Triolen zu bieten. Fast infernalisch geht es nun in Andersons Zauberwelt zu. Von Achtel- zu Vierteltriolen vergrößern sich die Bewegungen, bis sie auslaufen, um Phrasen in den Streichern zu weichen, die an die Kantilenen des Englischhorns erinnern. Es wird nun vorerst ruhiger und leiser, weniger Instrumente sind beteiligt. Die Streicher übernehmen zwischenzeitlich musikalisch die Führung.
Dann geht es dem Ende entgegen – die Musik ebbt ab, fast so, wie sie auftrat. Die Geflechte entwirren sich, manchmal noch flirren die Holzbläser wild über den Streichern. Lange, liegende Klänge der restlichen Musiker rollen den Holzbläsern einen roten Klangteppich dazu aus, zauberhaft. Das Englischhorn dominiert wie eine elegante, etwas wehmütige Diva das Stück. Besonders weich und klangvoll wirkt es in Kombination mit den kleinen, hohen Holzblöcken der Schlagzeuger, die dem sanften Klang des Doppelrohrblattinstruments ein bisschen Pfeffer geben.
Anderson hat hier keine Programmmusik vorgelegt, doch passt der Titel (Zauberei) sehr gut zur Musik, leitet die Fantasie des Hörers in die wohlig verzauberte, entspannte und doch irreale Richtung. Hier treffen wir auf expressive Musik voller Drang und mit voll ausgeloteter Dynamik, zehn Minuten Musik, die den Hörer nicht kalt lässt und sicher gut in fast jedes Programm passt.
Heike Eickhoff