Anderson, Julian

In lieblicher Bläue

Poem for violin and orchestra, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2015
erschienen in: das Orchester 11/2015 , Seite 76

Eine eigenartige Faszination scheint es auf Komponisten auszuüben: Friedrich Hölderlins spätes Prosagedicht In lieblicher Bläue, hatte sich doch seinerzeit bereits Hans Werner Henze bei seiner Kammermusik 1958 von Hölderlins grüblerisch-meditativen Bildern inspirieren lassen – so wie jetzt 2014/15 der 1967 geborene Brite Julian Anderson bei seinem Helmut Lachenmann gewidmeten Violinkonzert.
So unergründlich und vergänglich, nicht von Dauer, wie Schönheit nach Anderson in Hölderlins Gedicht erscheint, so gleichermaßen flüchtig stellen sich die Strukturen im Violinkonzert – laut Komponist „ein Gedicht für Violine und Orchester“ – dar. „Die Form des Stücks ist entsprechend schwer fassbar (elusive), ebenso die Beziehung zwischen Geigensolist und Orchester. Ohne allzu direkt programmatisch zu sein, stellt die Violine den Dichter mit seinen verschiedenartigen Gedanken, Gefühlen und Impulsen dar. Das Orchester kann den Sinnzusammenhang für diese Gedanken liefern – einen Kontext, der einmal strahlend und unterstützend, oder an anderer Stelle indifferent, beunruhigt, spöttisch oder gar feinselig sein mag.“
Der Komponist hat sich hier auch visuell einiges einfallen lassen, um diese ständige Metamorphose deutlich werden zu lassen. So wechselt der Solist während der zwanzig Minuten mehrfach spielend seine Position:
Beginnend hinter der Bühne bewegt er sich, nachdem er diese betreten hat, zunächst an die Seite des Orchesters, nimmt später zum Publikum gewandt die „normale“, also zentrale Position ein, um das Werk zuletzt zwar in der Mitte, aber mit dem Rücken zu den Zuhörern zu beenden.
Wer andere Werke Andersons gehört hat, wird kaum überrascht sein, auch hier seinen oft gerühmten Zug zu melodiöser Sanglichkeit zu finden. Er selbst setzt sein Stück in direkte Beziehung zur kurz vorher (2014) entstandenen Oper Thebans und merkt an, er empfinde das Schreiben für Sologeige wie das Komponieren einer Opernarie für Sopran. Auch sonst offenbart die Musik jede Menge sinnlich empfundener Farben und Klangwirkungen. Manches erinnerte mich ein wenig an Dutilleux’ späte Instrumentalkonzerte.
Je länger das Werk dauert, desto mehr weicht der dramatische Impetus einem lyrischen Grundcharakter, mystisch-schwebend, quasi im freien Raum, verklingt die Musik. Dem Solisten – ich sollte wohl eher schreiben, der Solistin: das Konzert wurde von Carolin Widmann uraufgeführt – mutet Anderson außer Wandern auch sonst noch einiges zu bis hin zum Vertauschen des Geigenbogens mit einem Bleistift – „ohne Radiergummiende“ – in der Mitte des Werks, mit dem auf den Saiten ein „leichter, dabei klar sirrender (buzzing) Klang“ produziert werden soll.
Alles in allem ein interessantes, allerdings auch sehr anspruchsvolles neues Konzert. Der Solopart für sich allein ist schon keinesfalls einfach, im Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester ist das Stück für alle Beteiligten sogar ausgesprochen vertrackt. Es will also gut vorbereitet sein.
Herwig Zack