Mahler, Gustav

“In Eile – wie immer!”

Neue unbekannte Briefe, hg. und kommentiert von Franz Willnauer

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Paul Zsolnay, Wien 2016
erschienen in: das Orchester 10/2016 , Seite 58

Bei kaum einem Komponisten sind Leben und Werk so eng verknüpft wie bei Gustav Mahler. Nicht weil er, wie Wagner, sich selbst als Kunstgenie inszeniert hat, sondern weil seine Musik vor dem Hintergrund seiner Weltsicht, seiner Visionen und Träume, aber auch seiner Lebenserfahrungen von Kindheit an kaum angemessen gedeutet werden kann. Deshalb ist biografisches Material über Mahler immer von großem Wert auch für das Verständnis seiner Musik. Im Zuge der seit den 1960er Jahren stetig gewachsenen und längst kaum mehr überschaubaren Mahler-Literatur ist das Leben des Komponisten mittlerweile gut erforscht. Auch liegen Ausgaben der Briefe Mahlers vor. Es sind insgesamt wohl gut 5000, die den Komponisten selbst zu Wort kommen lassen.
Der Musikwissenschaftler und -manager Franz Willnauer, der unter anderem Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals und des Beethovenfests Bonn war, hat schon zwei Bände mit Briefen Mahlers ediert: 2006 Mein lieber Trotzkopf, meine süße Mohnblume mit den Briefen an Anna von Mildenburg und 2010 Verehrter Herr College! mit Briefen an Komponisten, Dirigenten und Intendanten. Nun folgt ein drittes Buch mit rund 250 bisher unbekannten oder nur schwer zugänglichen Briefen, das sowohl dem Künstler als auch dem Privatmann Mahler gewidmet ist.
Willauer selbst spricht im Vorwort davon, dass diese „neuen unbekannten Briefe“ den „ganzen Mahler“ offenbarten. In der Tat, die Briefe, die einen Zeitraum von 1876 bis 1910 umfassen, also den Jüngling wie den Weltstar am Pult betreffen, geben Einblick in Mahlers Wirken als Komponist, Dirigent und Hofoperndirektor, aber auch in seine Freundschaften und sein Liebesleben. Natürlich ist dieser Band kein durchgängiger biografischer Briefroman, er wirft nur Schlaglichter auf bestimmte Begegnungen und Situationen. Dank der fundierten und vorzüglichen Kommentierung der Briefe durch den Herausgeber liest sich das Buch aber doch geradezu spannend wie ein Roman.
Willnauer teilt den hier auch un­ter wissenschaftlichen Maßstäben exzellent editierten Briefbestand thematisch in sechs Kapitel ein: „In jugendlichem Überschwang“, „Der Komponist verlangt Gehör“, „Ein Direktor schreibt Briefe“, „Drei Frauen um Mahler“, „Unter Dichtern“ und „Auf dem Weg zum Gipfel“. So ergibt sich immer ein konkreter Sinnzusammenhang, in den die Briefe eingeordnet werden.
Mahlers Biografie muss jetzt nicht neu geschrieben werden, aber es gibt doch ganz viele Akzente zu seiner Lebensgeschichte und Kunstauffassung, die hier gesetzt werden. Erwähnt seien stellvertretend nur seine eher reservierte Haltung zu Hofmannsthal oder seine Beziehungen zu der Sängerin Selma Kurz, die kurzzeitig seine Geliebte war, oder der Wiener Aristokratin Misa Gräfin Wydenbruck-Esterházy.
Das Buch ist ein lohnendes Werk für alle, die an Mahler interessiert sind. Der Titel des außerordentlich verdienstvollen und auch in seiner äußeren Anmutung überaus anprechenden Bandes ist trefflich gewählt, denn „in Eile“ hat Mahler nach eigenen Worten viele seiner Briefe verfasst.
Karl Georg Berg