Nikolaus Brass

In der Farbe der Erde/Der goldene Steig/Der Garten

Tabea Zimmermann (Viola), Sarah Maria Sun (Sopran), Neue ­Vocalsolisten Stuttgart, Symphonieorchester des Bayerischen ­Rundfunks, Ltg. Vimbayi Kaziboni, Peter Rundel, Peter Eötvös

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 5/2025 , Seite 74

Morton Feldman und Luigi Nono sind die Fixpunkte im Schaffen des bayerischen Komponisten Nikolaus Brass. Der 75-jährige ehemalige Klinikarzt und Medizinredakteur hat unter anderem bei Helmut Lachenmann Komposition studiert. Charakteristisch für ihn ist eine ingeniöse, an Feldmans Intuitionskraft geschulte, durchgeistigte Musik, die aus der Stille kommt. Eine Musik mit heilender Wirkung. Sie sensibilisiert das Ohr für poetische Bezüge.
Drei Orchesterkompositionen aus elf Jahren fasst die 45. Folge der 1945 begründeten renommierten Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks zusammen – durchweg Mitschnitte von Kompositionsaufträgen aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz. Nikolaus Brass’ filigrane Klanggespinste finden im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wie den Solist:innen und allen drei Dirigenten Interpreten allererster Güte. Spitzenklasse erreicht auch die Aufnahmequalität.
In der Farbe der Erde heißt das jüngste Werk von 2023. Vimbayi Kaziboni aus Simbabwe dirigiert den atmenden, wärmenden Klang 44 höher und tiefer gestimmter Streicher mit zwei Vibrafonen und Röhrenglocken. Fixpunkt ist der anspruchsvolle, meditierende Part der famosen Bratscherin Tabea Zimmermann. Markante Einwürfe setzen Zäsuren inmitten zart schwebender Gespinste. Hier hinein schlägt wie ein Blitz Nikolaus Brass’ Erkenntnis zum Reichtum des Schlichten in der Natur durch den inspirierenden kurzen Prosatext des Schweizer Lyrikers Philippe Jaccottet.
Prosa zu singen nach Art der Zweiten Wiener Schule bleibt der Gestaltungskraft der Sopranistin Sarah Maria Sun im 2016 entstandenen fünfsätzigen Orchesterwerk Der goldene Steig nach einem Text des verstorbenen Autors Peter Kurzeck vorbehalten. Nikolaus Brass vergegenwärtigt die Erinnerung an böhmische Gefilde in innerer Zwiesprache eines Sohnes mit dem verstorbenen Vater mit zwingender Imaginationskraft. Sarah Maria Sun besticht durch raffinierteste Ausdrucksfinessen. Und das Orchester gewinnt der imaginären Szenerie mit Peter Rundel verwunschene Wirkung ab.
Den Resurrexit-Überschwang mancher lateinischen Messe konterkariert der Komponist in seinem Werk Der Garten von 2012. Hier prallt die Wucht des überwältigenden Augenblicks auf das Immerwährende verrinnender Zeit. Die Begegnung des auferstandenen Jesus mit Maria Magdalena, die ihn erst nicht erkennt, gestalten der 2024 verstorbene Dirigent Peter Eötvös und die Vocalsolisten Stuttgart durch Vokalisen, die das Imaginäre der Szene betonen, mit dynamisch zugespitzter Sogkraft in der Schwebe von Tod und Leben.
Bernd Aulich