Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.)

Identitäten

Der Komponist und Dirigent Peter Eötvös (= edition neue zeitschrift für musik)

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2005
erschienen in: das Orchester 11/2005 , Seite 82

Eötvös gehört zu den musikalischen Mehrfachbegabungen, die in vielen Fällen den eigenen Weg schwerer finden als Künstler mit monolithischem Interesse und Wirkungsdrang. Wie Bartók, Kurtág und Ligeti wurde er im Osten Ungarns geboren – 1944, als Transsylvanien noch nicht Rumänien zugeschlagen worden war. Er habe von dort „nur ein Gefühl mitgenommen, das aber mein ganzes Leben bestimmt hat: Ich fühle, dass ich dorthin gehöre, auch was Musik angeht“, erklärte er in einem Gespräch mit Wolfgang Sandner, das den seinem Werk gewidmeten Sammelband biografisch grundiert.
Früh fiel er in der Kleinstadt Miskolc als musikalisch Hochbegabter auf. Als ministerieller Inspektor, zuständig für Musikunterricht an den Schulen, nahm György Ligeti den komponierenden Wunderknaben 1953 in Augenschein, ließ sich eine Kantate des Neunjährigen von diesem vorsingen und vorspielen. Dessen primäre künstlerische Sozialisation erfolgte, so ruft Sandner in Erinnerung, zu einem Zeitpunkt, in dem auch in Ungarn „die kulturelle Szene in eine offizielle und eine des Untergrunds zerfiel“, wobei dieser „Underground“ – nicht nur aus Gründen der Kontrolle – offiziell geduldet war. Eötvös entwickelte zu ihm und insbesondere zu dessen Jazzszene „Affinität“, die sich im weiteren Wirken niederschlug.
Anders als Ligeti, der die politischen Gründe für seine Emigration stets hervorhob, fand und „findet Eötvös keinen Geschmack daran, sich zum politischen Emigranten oder gar Märtyrer zu stilisieren“, resümiert der Herausgeber. Hans-Klaus Jungheinrich nimmt die musikalische Fortbildung von Eötvös in der Bundesrepublik unter die Lupe und in diesem Zusammenhang insbesondere das Verhältnis zu Karlheinz Stockhausen sowie dessen (von ausbeuterischen Zügen nicht freie) „gelenkte Gruppenimprovisation“, dann auch die Tätigkeit von Eötvös als Techniker im elektronischen Studio des WDR Köln (1971-1979). Obwohl dieser von 1966 an in Köln auch ein
Dirigentenstudium absolvierte, nutzte er dessen Potenzial zunächst nicht. Erst in den 70er Jahren wurde er „von WDR-Symphonikern wieder daran erinnert“; sie brachten „ihn, der als Klavierspieler, Schlagzeuger und Klangregisseur in der halben Welt unterwegs war und in Köln als musikalische Multibegabung immer mehr gefragt, erneut auch zum Dirigieren“. Und bald schon verkörperte er „einen modernen Dirigententypus, der sich vor allem auch um Organisationsprobleme und Probenökonomie bekümmert“.
Der kleine Sammelband charakterisiert Peter Eötvös zutreffend als Erben der Moderne: Der Komponist und Dirigent leugne nicht, meint Jungheinrich, „viel von Stockhausen gelernt zu haben“. Doch sei er eben allmählich aus dem Bannkreis der „Gesetzgeber“ für die musikalische Avantgarde getreten und „realisierte seine (maßvoll) polymorphe Stilistik nach den Prämissen einer Postmoderne“. Eötvös selbst verweist auf das heute innerhalb seines musikalischen Horizonts real existierende „pluralistische Geflecht“.
Exemplarisch befasst sich Éva Pintér mit den Drei Madrigalkomödien und Péter Halász mit dem 1995 in Köln uraufgeführten Atlantis-Projekt, das als „Erzählen der Katastrophe“ mit den Mitteln der Musik analysiert wird. Rachel Beckles Wilson bringt die musikalische Dramaturgie der Oper Drei Schwestern auf einen allzu kleinen Nenner, indem sie „Trennungsschmerz“ als zentrale Kategorie vermutet. Die insgesamt von Kenntnisreichtum geprägten Essays ergeben ein rundes Gesamtbild von Biografie, Arbeitsweise und Intention des ungarischen Künstlers, der für längere Zeit seinen Lebensschwerpunkt in Deutschland fand.
Frieder Reininghaus