Jasmin Solfaghari (Hg.)

Ich schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit

„Parsifal“ am Goetheanum

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 2/2025 , Seite 66

Die Werkgebilde von Richard Wagner und die Gedankengebilde des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner haben Verbindungen. Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal, das ursprünglich nur im Bayreuther Festspielhaus aufgeführt werden sollte, der „Parzival-Mythos“ und Wolfram von Eschenbachs durch Wagner stark verändertes Epos Parzival wirkten auf Steiners Denken: „In ihm [Parzival] haben wir eine Persönlichkeit, die abseits erzogen worden ist von der Kultur der äußeren Welt, die nichts hat wissen sollen von der Kultur der äußeren Welt, die zu den Wundern des Heiligen Grals hat geführt werden sollen, damit sie nach diesen Wundern fragt, aber fragt mit jungfräulicher, nicht durch die übrige Kultur beeinflusster Seele“, referierte Steiner in Berlin am 6. Januar 1914 in der Vortragsreihe „Das fünfte Evangelium“.
Erst seit 2014 sind Musiktheater-Aufführungen durch den Einbau des Orchestergrabens auf der für Steiners Mysteriendramen und Goethes Faust bestimmten Goetheanum-Bühne in Dornach bei Basel möglich. 2023 gelangte auf Initiative des Produzenten Alexander von Glenck und der Regisseurin Jasmin Solfaghari Wagners letztes Musikdrama zur Premiere und wurde 2024 wiederholt. Auch die drei Vorstellungen um Ostern 2025 mit der Philharmonie Baden-Baden und dem Dirigenten Roland Fister sind ausverkauft.
Es war ein Annäherungsprozess der Welten des Musiktheaters mit denen des Else-Klink-Ensembles und des Goetheanum-Eurythmie-Ensembles. Die Spezialist:innen für die von Rudolf Steiner und Marie von Sivers entwickelte Bewegungssprache trugen Solfagharis szenische Arbeit auf die Bühne von Walter Schütze, die durch die Ästhetik Adolphe Appias inspirierte wurde. Unter mehreren Aspekten gerät die Beschreibung dieser Annäherung zum wichtigsten Teil des Bandes: Drei Eurhythmistinnen begleiten in Stefan Haslers Eurythmie-Regie die sich in Reinkarnationen durch die Jahrhunderte quälende Kundry. Die Requisiten Speer, Schwan und Gral werden durch Menschengruppen dargestellt. Als Gralsritter treten zwölf Eurhythmist:innen auf. Das Ineinanderwirken mit synergetischen Kompromissen zu Bühnenraum, inhaltlichen Erfordernissen und Höhenverhältnissen wird deutlich. Man merkt die sensible Anstrengung, sich von früheren Sichtweisen, welche Parsifal als antisemitischen Passionsspiel-Ersatz verstanden, explizit abzugrenzen. Zugleich wird neben den Parallelen zwischen den Bayreuther Festspielen und dem Goetheanum Dornach der experimentelle Gehalt und spirituelle Anspruch des Projekts deutlich.
Indirekt bestätigt auch ein Aufsatz von Sven Friedrichs über alle Bayreuther Parsifal-Inszenierungen seit der Uraufführung, dass der Dornacher Parsifal ein wichtiger Baustein in der Rezeption des Werks und seines geistesgeschichtlichen Umfelds ist.
Roland Dippel