Antonio Vivaldi

I Colori dell’Ombra

Ophélie Gaillard (Violoncello und Ltg.), Pulcinella Orchestra

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Aparté AP226
erschienen in: das Orchester 10/2020 , Seite 69

Dass der venezianische „Maestro di violino“ Antonio Vivaldi den tiefen Instrumenten zahlreiche Reverenzen erwiesen hat, mag überraschen. Gewiss übersteigt die Zahl seiner Violinwerke diejenige der Sonaten und Konzerte für Cello und Fagott, doch sind knapp einhundert Kompositionen erhalten, in denen das tiefe Register virtuos in Szene gesetzt wird.
Hauptgrund hierfür dürfte sein, dass – so die Notiz eines Zeitgenossen – die begabten Schülerinnen des Ospedale della Pietà, an dem Vivaldi wirkte, „wie die Engel singen, geigen, flöten, Oboe, Orgel, Cello und Fagott spielen und selbst vor den größten Instrumenten nicht zurückschrecken“.
Dass darüber hinaus eine Affinität der Venezianer zum „Chiaroscuro“, ja der omnipräsente Schatten enger venezianischer Gassen Vivaldis Neigung zu dunklen Klängen verstärkt haben mag, mutet spekulativ an, diente aber offenbar den Protagonisten der vorliegenden Produktion als dankbarer Aufhänger: Ophélie Gaillard – Cellistin und Leiterin des Pulcinella Orchestra – und der Vivaldi-Forscher Olivier Fourés stellen das Doppelalbum unter das Motto „I Colori dell’Ombra“ („Die Farben des Schattens“). Wir hören vier vollständige und zwei fragmentarische Cellokonzerte, außerdem Doppel- und Quadrupelkonzerte mit hohem Celloanteil, zwei Arien mit obligaten Cello-Partien und eine (violindominierte!) Streichersinfonie.
Nun tragen die Produktionen der Cellistin Ophélie Gaillard häufig einen deutlichen Personality-Stempel. So auch hier: Die „Farben des Schattens“ fungieren als willkommene Kulisse für ein Gaillard-Special mit Hochglanzfotos und feierlichen Worten.
Unterhalb dieser Ebene wird indes kompetent und qualitätvoll musiziert. Ohne Zweifel zählt Gaillard zu den führenden Barockcello-Solistinnen. Ihrem (venezianischen) Goffriller-Cello entlockt sie brillante Sechzehntelkaskaden und sonore Basstöne ebenso wie ausschwingende, singende Kantilenen. Ihre Ideen transferiert sie zudem überzeugend auf ihr Orchester, dessen homogenes, vitales Spiel durchaus begeistert. Gleichwohl bleibt der Eindruck einer gewissen Eindimensionalität: Alle schnellen Sätze sind sehr schnell, stets vernehmen wir perkussive Bässe und einen gleichsam dauer-karnevalistischen Super-Drive, der leider auch ermüden kann.
Vokale Glanzlichter setzen in den Arien Lucile Richardot und Delphine Galou. Das Booklet enthält einen fundierten Text aus der Feder Fourés, dem gleichwohl ein wichtiger Aspekt fehlt: Welche Anhaltspunkte bietet die Musikwissenschaft in der Frage, ob Vivaldi gelegentlich für ein 5-saitiges Violoncello piccolo (mit zusätzlicher E-Saite) komponierte oder sich am gewohnten Viersaiter und zugleich an der avancierten Lagentechnik der Ospedale-Cellistinnen orientierte? Ophélie Gaillard spielt mehrere Konzerte auf dem Piccolo. Das ist nicht verboten. Ob es ge-boten ist, bleibt leider unklar.
Fazit: grandiose Musik, durchweg gut (bis sehr gut!) gespielt, leider mit allzu viel Verpackungs-Firlefanz umhüllt!

Gerhard Anders