Leó Weiner, László Weiner, Zoltán Kodály, Ernő Dohnányi

Hungarian String Trios

Trio Boccherini

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BIS Records
erschienen in: das Orchester 11/2024 , Seite 75

Die Werke dieses Albums (es sind durchweg Frühwerke der Komponisten) entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt: zwischen 1902 und 1938. Die ungarische Musikszene lavierte damals zwischen dem Einfluss des Wiener Tonfalls und der akademischen Lehre der deutschen Schule auf der einen Seite – und der Bemühung um einen eigenen, ungarisch-nationalen, folklorenahen Charakter auf der anderen. Zu dieser innermusikalischen Auseinandersetzung passte der ernste, entschlackte, kämpferische Klang des Streichtrios nicht schlecht. Höhepunkte der hier versammelten Werke sind Vivace- und Finalsätze mit feurigen Rhythmen, aber auch ergreifende, ausholende Melodien im ungarischen „Volkston“ (oft mit rhythmischem Ostinato).
Leó Weiners Streichtrio in g-Moll (1908) und Ernő Dohnányis Serenade in C-Dur (1902) – vier- bzw. fünfsätzig – bilden das Fundament des Albums. Es sind zwei heimliche Meisterwerke des Streichtrio-Genres im 20. Jahrhundert, auch wenn beide Komponisten noch stark dem 19. verhaftet waren. Weiner, der „ungarische Mendelssohn“, und Dohnányi, der Brahms-Bewunderer (und bei uns bekannter unter dem eingedeutschten Namen Ernst von Dohnányi), waren beide noch nicht 30, als sie ihre Werke schrieben. Weiners Trio wirkt nur momenteweise schwärmerisch oder anmutig. Es überwiegt eine Haltung von strenger, dramatischer Entschlossenheit. Das raffiniert synkopierte Vivace-Scherzo und das abschließende Allegro con fuoco entwickeln mitreißende rhythmische Wucht. Bei Dohnányi gibt es auch Marsch-Elemente, Anklänge an ungarische Folklore und ebenfalls zwei rhythmisch feurige Sätze, die eine wilde Chromatik entfesseln. Zwei grandiose Werke, die wiederholtes Hören lohnen.
Das von Dohnányis Serenade angeregte Intermezzo von Kodály von 1905 ist ein fünfminütiges Einzelstück. Es verdichtet mehrere ungarische (oder ungarisch inspirierte) Volksmotive, wie sie der Komponist jahrzehntelang gesammelt hat. Eine Generation jünger war László Weiner (nicht verwandt mit Leó Weiner), der 1944 (mit nur 28 Jahren) in einem ungarischen Arbeitslager den Tod fand. Seine dreisätzige Serenade von 1938 gewinnt ihre moderne Expressivität aus der Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit des ersten Satzes, der Fragilität des zweiten, dem ernsten Fugato des dritten. Ungarische Anklänge finden sich hier am wenigsten.
Das international besetzte Trio Boccherini – benannt nach einem Pionier des Streichtrio-Formats – hat 2014 in Berlin zusammengefunden. Es ist den drei wunderbaren Akteur:innen – Suyeon Kang, Vicki Powell, Paolo Bonomini – hoch anzurechnen, dass sie sich diese ungarischen Werke des vergangenen Jahrhunderts mit unbestechlichem Ernst und großer Kompetenz erarbeitet haben. Ihre Interpretation besitzt den Charakter einer strengen Befragung – einer Befragung, die in Liebe umschlägt.
Hans-Jürgen Schaal

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