Jestremski, Margret

Hugo-Wolf-Werkverzeichnis (HWW)

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2011
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 64

Schon vor zehn Jahren hat Margret Jestremski eine akribische Monografie über Hugo Wolfs hinterlassene Skizzen und Fragmente vorgelegt und damit jenen Teil seines schöpferischen Nachlasses dokumentiert, dessen allgemein verständliche Aufbereitung besonders schwierig ist. Sie mit der Erarbeitung eines kompletten Werkverzeichnisses zu betrauen, war also nahe liegend, und bei dieser Lektüre begegnet man nicht nur dem bedeutendsten Liedkomponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts; erst jetzt lassen sich auch seine großen Ambitionen auf dem Gebiet der Instrumentalmusik erkennen, die über die wenigen bekannten Werke (darunter etwa die Sinfonische Dichtung Penthesilea oder die Italienische Serenade) deutlich hinausgingen. Und die Arbeit an mehr oder weniger weit gediehenen Sinfonien, verschieden besetzter Kammermusik und Klavierkompositionen ist nicht nur ein Phänomen seiner Jugend, der typischen Zeit des Suchens und Experimentierens, sondern durchzieht Wolfs ganzes Schaffen. Davon ist das meiste zwar lediglich im Entwurfsstadium geblieben, aber sogar der letzte Eintrag im Hauptteil des Verzeichnisses weist nochmals ein Orchesterstück nach, nämlich eine Skizze zum ersten Satz einer dritten Italienischen Serenade. Beeindruckend vielfältig waren obendrein seine Opernpläne, die vom Märchen Rübezahl über Shakespeares Sommernachtstraum und Sturm bis zu Kleists Prinz von Homburg oder Grillparzers Wehe dem, der lügt reichten.
Abgesehen von einigen frühen, später aber verworfenen Werken hat Wolf keine Opuszahlen vergeben und so das aus seiner Sicht Gültige vom Beiläufigen nicht unterschieden – dies spiegelt sich allenfalls in der Trennung von Publiziertem und Unveröffentlichtem wider. Somit entfällt auch ein nahe liegendes Ordnungskriterium, und Jestremski entschied sich zu einer chronologischen Gesamtgliederung, auch wenn es nicht oder nicht genau datierbare Werke gibt. Außerdem musste sie dieses Prinzip bei den Liederheften, die natürlich in ihrer Gesamtheit beschrieben werden sollten, aufgeben, da darin oftmals zeitlich weit auseinander liegende Kompositionen zusammengefasst sind; hier entschied das zuletzt entstandene Lied über die Position des Eintrags. Die Informationen zu jedem einzelnen Stück sind außerordentlich detailliert ausgefallen: aussagekräftige Notenincipits, ausführliche Kommentare zur Entstehung einer Komposition,
die Beschreibung der Quellen, Genese der Sammlungen, teilweise auch Uraufführungsdaten sowie die Nachzeichnung der Veröffentlichungsgeschichte; Letztere ist häufig recht diffizil, weil der noch wenig bekannte Wolf immer wieder zunächst auf Kleinverlage angewiesen war (etwa Lacom in Wien); erst später kamen die heute meist geläufigeren Titel- und Frühauflagen in namhafteren Verlagen heraus.
Jestremskis Arbeit zeugt von einem mehr als profunden Wissen und dürfte für die Forschung rasch unverzichtbar sein.
Georg Günther