Marco Frei

Hotspot im Norden

Orchesterkultur international: das neue Carl-Nielsen-Festival im dänischen Odense

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 42

In Zeiten wie diesen ein neues Festival mit Gastspielen internationaler Orchester? Das grenzt an Wahnsinn. Schon seit einigen Jahren sind Orchester-Tourneen wegen ihrer Klimabilanz teils heftig umstritten. Noch dazu haben Pandemie und der Krieg gegen die Ukraine allerorts wirtschaftliche Auswirkungen. „Es wirkt etwas gewagt, jetzt ein solches Festival zu starten“, räumt Jacob Soelberg ein. „Vielleicht sind wir tatsächlich etwas verrückt.“ Mit „wir“ meint Soelberg sich und den Geiger Nikolaj Szeps-Znaider.
Soelberg ist Geschäftsführer des neuen sommerlichen Carl-Nielsen-Festivals im dänischen Odense, Szeps-Znaider hingegen der künstlerische Leiter. Der formuliert es etwas anders, meint aber im Grunde dasselbe. „Mut gehört zum Leben.“ Tatsächlich ist ihre Vision ziemlich groß. Die Konzertreihe ist nicht nur einfach ein internationales Orchesterfestival, sondern das erste dieser Art in Dänemark. Manche nennen es sogar das erste im hohen Norden und in Skandinavien. Das ist vielleicht etwas zu dick aufgetragen. Immerhin gibt es noch das Baltic Sea Festival im norwegischen Bergen und das Helsinki Festival in der finnischen Hauptstadt. Aber das neue Festival bringt alle Voraussetzungen mit, um im nordischen Kontext ein wichtiges Tor zur Orchesterwelt zu werden: nicht nur für Dänemark.
Die Finanzierung ist eine Mischung aus privaten Geldquellen und Mitteln der Stadt Odense. Weil in der sehenswerten Stadt der berühmte Märchenkönig Hans Christian Andersen geboren wurde, gibt es hier bereits ein Andersen-Festival. In diesen Reigen unterschiedlicher Kunstgenres, nach dem Vorbild des Festivals im schottischen Edinburgh, reiht sich auch das neue Nielsen-Festival ein. Wie der Name schon suggeriert, soll das Programm stets auch Werke des zeitweise in Odense wirkenden dänischen Komponisten berühren. Eine signifikante Unterstützung kommt folglich auch von der Nielsen-Stiftung. Vonseiten des dänischen Staats fließt bislang nichts, aber was nicht ist, kann noch werden.
Der Auftakt des neuen Festivals Ende August 2022 setzte jedenfalls ein imponierendes Zeichen – trotz mancher Tücken. So musste der Auftakt mehrmals umgeplant werden. Beim ersten Versuch sollte ein prominentes Orchester aus den USA kommen, was die Pandemie verhinderte. Ohnehin musste der Startschuss verschoben werden. Danach war ein russisch-dänischer Schwerpunkt geplant, um 2022 ein Freundschafts-Jubiläum zwischen den beiden Ländern zu begehen. In diesem Rahmen sollte das Mariins­ky-Orchester aus Sankt Petersburg mit Valery Gergiev gastieren, aber der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch dies verhindert. Wie München ist Odense eine Partnerstadt von Kiew, was die Sache politisch noch komplizierter macht. Das Festival musste kurzerhand nochmals komplett neu geplant werden. Erst im Juni konnte das Programm für die erste Edition des neuen Orchester-Festivals offiziell bekanntgegeben werden.
Trotz der politischen Lage hat das Festival programmatisch an russischer Musik und russischen Solist:innen festgehalten: Nichts und niemand wurde gecancelt. Sonst aber ist das Konzept des Festivals im Grunde simpel und doch ein Coup, denn: Neben den abendlichen Konzerten der weltbekannten, internationalen Gastorchester samt glanzvoller, solistischer Klassik-Prominenz werden nicht zuletzt Kammermusiken in Odense und der ländlichen Umgebung geboten. Auf diese Weise konnte man jetzt beispielweise den Star-Pianisten Daniil Trifonov erleben und gleichzeitig eine idyllische Region entdecken, die man sonst kaum kennt.
Weil an vielen Konzerten auch der künstlerische Leiter mitwirkt, sprechen manche von einem „Znaider-Festival“, aber: Er bietet als Geiger eben auch die nötige Qualität und lässt das Festival durch seine Mitwirkung persönlicher, exklusiver, intimer erscheinen. Für alle ist das neue Orchester-Festival ein Gewinn, weil mit der Reihe insgesamt mehr Publikum für die Klassik empfänglich gemacht werden kann. Das heimische Odense Symfoniorkester kann sich hingegen gleich vor Ort inspirieren lassen.
Dabei geht es nicht zuletzt um die Odense Concert Hall. Sie ist akustisch eine echte Herausforderung. „Es ist hilfreich, in unserem Saal zu sitzen und den anderen zuzuhören, zu welchen Lösungen sie jeweils kommen“, bestätigt Orchestermanagerin Trine Boje Mortensen. „Manche Lösungen überraschen, bei anderen sagen wir uns: ‚Genauso machen wir es auch.‘ Nun haben wir die Gelegenheit, selbst unseren Saal zu hören. Das ist wunderbar.“ Beim jetzigen Gastspiel des WDR-Sinfonieorchesters aus Köln mit seinem Chef­dirigenten Cristian Măcelaru funktionierte das prächtig. Jedenfalls wirkte die Sinfonie Nr. 2 von Sergei Rachmaninow dynamisch nicht übersteuert. Ganz anders das erste Konzert mit der Philharmonia-Truppe aus London unter Tugan Sokhiev und mit Trifonov: Sowohl das Klavierkonzert Nr. 1 von Peter Tschaikowsky als auch die Vierte von Johannes Brahms wurden allzu wuchtige, teils dröhnende Machwerke.
Von der Stadt Odense als zentraler Geldgeberin gibt es ganz fest das Signal für zunächst drei Ausgaben des Festivals. Eines ist klar: Hier schlummern reiche Potenziale. So wäre eine Kompositionswerkstatt wünschenswert, bei der sich junge Komponist:innen mit dem Erbe Nielsens auseinandersetzen können. Gleichzeitig gilt es, auch anderes, neues, jüngeres Publikum für die Klassik zu erwärmen, und das berührt ebenso die Vermittlungsarbeit. Natürlich weiß das auch Znaider, aber: „Wir müssen uns zunächst etablieren und wachsen.“ Gleichzeitig würden, so Soelberg, bereits „fruchtbare Gespräche“ mit dem Baltic Sea Festival und dem Helsinki Festival geführt – über mögliche Kooperationen. Eines steht fest: Dieses Festival hat das Zeug, ein veritabler Hotspot der Orchesterkultur im hohen Norden zu werden. Odense ist fraglos eine Reise wert.