Otakar Ševčík

Holka modrooká

(Blauäugiges Mädchen) aus ­„Böhmische Tänze und Weisen“ op. 10 für Violine und Klavier

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 63

Nimmt man den Herausgeber Pavel Hůla beim Wort, handelt es sich bei dem hier wiederveröffentlichten Stück Holka modrooká („Blauäugiges Mädchen“) von Otakar Ševčík um eine der „populärsten tschechischen virtuosen Kompositionen“ für Violine. Sie entstand wahrscheinlich 1872 als erste von insgesamt sieben Volkslied-Paraphrasen, die unter dem Titel Böhmische Tänze und Weisen unter der Opuszahl 10 veröffentlicht wurden und tatsächlich für eine Aufführung im Konzertsaal und eben nicht – wie die übrigen Veröffentlichungen Ševčíks – als Studienmaterial oder methodische Anleitung für den Violinunterricht gedacht waren. Von der Machart her gleicht Holka modrooká anderen Stücken dieser Art aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, bei denen Volksmelodien durch allerlei Griff- und Bogentechniken angereichert und zum virtuosen Schaustück aufgeblasen wurden.
Während dies bei Zeitgenossen wie Pablo de Sarasate jedoch sehr erfindungsreich und mit viel Raffinement geschieht, wirkt Ševčíks knapp sechsminütiger Technikparcours seltsam blutleer und steckt zudem voller Redundanzen: Nach einem 22-taktigen Klaviervorspiel, das wie ein vorgeschalteter Fremdkörper wirkt, wird das Thema des Rahmenteils in Doppelgriff-Flageoletts mit eingestreuten linken Pizzicati vorgetragen, um dann in Passagenwerk voller Saitenwechsel und Terzgriffe zu münden – eine Strategie, die bei der Rekapitulation dieses Themas am Ende der Komposition noch zusätzliche Steigerungen erfährt. Im mittleren Abschnitt hingegen dominiert ein halbwegs lyrisches „con fuoco“-Thema, zwischen dessen zweimaligem Auftreten (in verschiedenen Tonarten) Ševčík einen auf der G-Saite angestimmten Gedanken eingeschoben hat, der wiederum in unterschiedlichen Varianten bis hin zu Dezimengriffen repetiert wird. Wer extreme technische Herausforderungen liebt, wird sich sicherlich an all diesen Aufgabenstellungen und ihrer Bewältigung erfreuen können; in musikalischer Hinsicht ist das Ergebnis aufgrund des etüdenhaften Charakters und der vielen Wiederholungen freilich wenig reizvoll.
Bei der vorliegenden Wiederauflage der Komposition hat es sich der Herausgeber denkbar einfach gemacht: Gegenüber den früheren Ausgaben ist der Notentext beider Instrumentalparts mitsamt der originalen Violin-Fingersätze unverändert übernommen worden. Lediglich zur Erzeugung eines mehrmals wiederkehrenden Doppelflageoletts schlägt Hůla – am unteren Rand neu in das Druckbild der ersten Seite integriert – einen alternativen Griff vor, der mit einem bequemeren Fingersatz aufwartet. Darüber hinaus plädiert er dafür, zugunsten der Doppelflageoletts immer auf die von Ševčík angegebenen Ossia-Varianten des Rahmenthemas zu verzichten. Dass man sich dadurch der letzten Möglichkeit einer (wenn auch sehr spärlichen) Abwechslung beraubt und das Ergebnis durch diese Entscheidung noch eintöniger wird, scheint ihm nicht besonders viel auszumachen.
Stefan Drees