Michael Thumser
Hof: Menschenblick in Mörderaugen
Eine wahre Auschwitz-Geschichte: Mit Somtow Sucharitkuls Oper „Helena Citrónová" wendet sich das Theater Hof wider das Vergessen
„Wider das Vergessen“ schreibt das Theater Hof während der laufenden Spielzeit über eine Reihe von Produktionen, die (wie es auf der Website heißt) „achtzig Jahre nach dem grausamen Höhepunkt der Machenschaften des nationalsozialistischen Regimes auf Täter, Opfer und Widerstandskämpfer“ blicken. Den Anfang machte die slowakische Jüdin Helena Citrónová, die unüberhörbar ihr persönliches Leid und die allumfassende Bestialität des Nazi-Rassismus herausklagt: Gequälte, gleichwohl unbeugsame Titelheldin ist sie in einer Oper, deren Integrität darauf gründet, dass sie eine wahre, sich über Jahre der Todesangst hinziehende Geschichte binnen zweier Spielstunden komprimiert wiedergibt; und deren Glaubwürdigkeit nicht darunter leidet, dass ein Thailänder sie sehr fern vom Schreckensort der Handlung getextet, komponiert und 2020 in Bangkok uraufgeführt hat. Der 69-jährige, auch als vielschreibender Horror-Romancier hervorgetretene Somtow Sucharitkul und mit ihm das Hofer Haus als bisher erst zweiter Spielort wagen es, von den Exzessen der Grausamkeit im KZ Auschwitz zu berichten und zur selben Zeit am selben Ort von einer Liebe, die „frei macht“ und doch in jeder Minute „den Tod bringen“ kann.
Helena, der verhöhnte „Untermensch“, und der SS-Wachmann Franz, ein Unmensch herzlosester Gesinnung, verlieren sich aneinander auf Gedeih und Verderb: Um ihn ist es geschehen, als sie ihm unter Zwang ein Schubertlied als Geburtstagsständchen singt; und sie entdeckt unversehens, ja widerwillig den „menschlichen Blick“ in den „Augen des Mörders“. Gestundete Zeit: Für kurze Atemzüge der Unwirklichkeit folgen die beiden den von Franz Schubert an die „holde Kunst“ gerichteten Melodien, „in eine bessre Welt entrückt“. So sind sie beide Gefangene auf Annette Mahlendorfs dunkelgrauer, zweistöckiger Drehbühne zwischen Betonpfeilern und Stacheldraht. Hier rührt Lothar Krauses Inszenierung ohne jede verharmlosende Rührseligkeit eigentümlich ans Herz und geht gewaltig an die Nieren, vom Orchestervorspiel an: Da lässt Ivo Hentschel am Pult der Hofer Symphoniker in brutalen Klangbildern einen Transportzug mit kreischenden Bremsen an der berüchtigten Selektionsrampe des Lagers vorfahren. Für die bezwingende Atmosphäre der stets fasslichen Musik sorgte der südostasiatische, musikalisch indes westlich sozialisierte Komponist sowohl durch Zwölfton-Elemente als auch durch – dissonant verzerrte – Anleihen an Klezmer, Tango, Walzer, durch magnetische Kontaktaufnahmen mit der Abgründigkeit mahlerscher Adagios oder, unheilvoll untertönt, der Empfindsamkeit gekonnter Hollywood-Soundtracks.
Sucharitkul hat das Geschehen auf die Titelrolle konzentriert. Inga Lisa Lehr kehrt dafür die leidenschaftlich-dramatische Seite ihres Soprans hervor, sogar eine gewisse Härte, Stoßkraft und Schärfe, um den nicht zu demoralisierenden Lebensstolz der Figur auszuloten. Da fällt dann durchaus auf, dass Helenas Peiniger und Partner Franz kein Mann des Belcantos ist: Immerhin können die Mattheit und Brüche in der Stimme Markus Grubers als Erkennungszeichen stehen für die Gebrochenheit und Ambivalenz eines den Halt verlierenden Charakters.
Am Ende entschwindet Helena, nun in rosa Eleganz gekleidet, aber mit demselben kleinen Koffer an der Hand, mit dem sie das KZ betrat. Die trotz Krieg und Krisen bessere Welt von heute darf jenes Gepäckstück und darin die Erinnerung an schauerlichste Schuld nicht verlieren, nicht einmal verschweigen. „Vergessen“ kann eh nur, wer es wirklich will.