Sophie Fetthauer
„Hier muß sich jeder alleine helfen“
Paula, Josef und Frieda Fruchter: Briefe einer Wiener Musikerfamilie aus dem Shanghaier Exil 1941-1949
Die Briefe, die die achtjährige Frieda Fruchter aus der Ferne nach Wien schreibt, klingen brav und heiter – so wie viele von Müttern animierte Briefe an die Großeltern: „Ich bin schon ein paar Wochen in die Schule gegangen. Es war sehr schön. Die Schule hatte einen großen Garten mit einem großen Rasen, wo die Kinder Ball, blinde Kuh und alles mögliche spielen.“ Einzig die Tatsache, dass die Lehrerin Russin ist und nur Englisch und Russisch versteht, ist ein Hinweis darauf, dass sich Frieda und ihre Eltern, die Musiker:innen Josef und Paula Fruchter, in einer außergewöhnlichen Situation befinden. Die jüdische Familie konnte vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus ihrer Heimatstadt Wien fliehen und lebte insgesamt acht Jahre im Exil auf der anderen Seite der Weltkugel, in Shanghai.
Auch aus Mutter Paulas Zeilen spricht Alltag: Für Josef, einen Kantor und Chorsänger, so schreibt die Ehefrau, die in Wien als Korrepetitorin tätig war, stünden Konzerttermine an. Aber ein Taifun durchkreuzte sie. Soweit, so harmlos. Lediglich eine Markierung am Ende des Briefs weist darauf hin, dass die Zeilen die Zensur der Nazis passiert hatten.
Sophie Fetthauer hat mit ihrer großartigen und sorgfältigen Edition der Briefe der Musikerfamilie Fruchter ein in der Geschichtsschreibung wenig beleuchtetes Thema in den Fokus genommen, nämlich die Tatsache, dass während des Hitler-Regimes 18000 vorwiegend jüdische Menschen in Shanghai Zuflucht fanden. Hintergrund war unter anderem ein kompliziertes politisches Konstrukt: Verfolgte konnten ein Zeitfenster nutzen, in dem es wegen der partiellen Besetzung der chinesischen Hafenstadt durch die japanische Armee keine Kontrollen bei der Einreise gab. In der 3,5-Millionen-Stadt bildeten sich unter teilweise katastrophalen Lebensbedingungen Auslandsgemeinden mit eigenen Dynamiken. Eine große Zahl der Geflüchteten waren Musiker:innen. Die meisten verdienten sich ihr Geld mit Unterhaltungsmusik. Den entstehenden Musiker-Kosmos beschreibt Sophie Fetthauer detailreich.
Gefördert hat ihre Recherchen die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Bereits 2021 hat die Autorin das Standardwerk Musikerinnen und Musiker im Shanghaier Exil veröffentlicht. Jetzt hat sie mit den Briefen der Fruchters mithilfe der Nachfahren weitere wertvolle Zeitdokumente zusammengetragen. Darin beschreibt Paula Fruchter nicht nur, wie sie auf einem Gaskocher Wiener Kulinarik zubereitet, sondern auch die komplexen Arbeitsumstände der Exilanten.
Würde es sich vor dem Hintergrund der Judenverfolgung durch die Nazis nicht verbieten, so wäre man versucht, das Leben der Fruchters in Shanghai als Abenteuer zu bezeichnen. Unbedingt lesenswert ist das Buch allemal.
Christina Hein