Lucke-Kaminiarz, Irina
Hermann Abendroth
Ein Musiker im Wechselspiel der Zeitgeschichte
Zu Hermann Abendroths durch Stetigkeit, große Linie und Solidität charakterisierter Musizierweise steht die dramatische Lebenskurve in grotesker Weise quer. Ein fast raketenhafter Aufstieg über Essen und Lübeck bringt den 32-Jährigen 1915 an die Spitze des Gürzenich-Orchesters, nach Nikischs Tod steht er in Berlin und Leipzig mit Furtwängler in engster Wahl, wird 1934 von den Nazis aus Köln verjagt und dennoch wenig später Gewandhauskapellmeister, unterstützt durch Bürgermeister Goerdeler. Dass er in Leipzig dem verjagten Bruno Walter nachfolgt, wird ihm später verübelt; das fällt nicht schwer, weil er, um seine nichtarische Frau und das Orchester zu schützen, peinliche verbale Zugeständnisse macht. 1945 als regimenah verdächtig muss er Leipzig verlassen und findet in Weimar eine neue Wirkungsstätte, der er, neben weiteren Engagements in Leipzig und Berlin, bis zu seinem Tode treu bleibt. Nun allerdings wird er im Westen als Staatskünstler der DDR gebrandmarkt (ein Freund aus Kölner Zeiten, Konrad Adenauer, hat daran traurigen Anteil), offiziell geschnitten und fast vergessen. Einen Dirigenten, der u.a. fast 20 Jahre das Kölner Musikleben geprägt hat, oft bei den Berliner Philharmonikern und auch in Bayreuth zu Gast war, verwechseln mehrere ambitionierte Publikationen mit dem Musikschriftsteller Walther Abendroth.
Der seit etwa zehn Jahren zunehmende mediale Nachruhm geht von Frankreich aus; in Leipzig hat man es beim 50. Todestag im Jahr 2006 bei einer Verunglimpfung des Nazis belassen wie leicht richten wir Leute, deren genauere Lebensumstände wir nicht kennen! Ohne von der Problematik dispensiert zu sein, sind wir weder zu Schuld- noch zu Freisprüchen befugt. Nicht anders als Furtwängler und andere meinte Abendroth, entgegen jeglichen Verdachts auf Komplizenschaft mit den Herrschenden, durch einen apolitisch-idealistischen Begriff von Kunst legitimiert und verpflichtet das richtige Leben im falschen führen zu können.
Weil die einschlägige Diskussion kaum zu beenden ist, Fakten und Argumente sich hier kaum trennen lassen, erscheint die Sicherung der Materialgrundlage besonders wichtig. Das hat die Autorin im Anschluss an eine Ausstellung im Nationaltheater Weimar mustergültig besorgt und der Verlag hat sie, was Sorgfalt und Opulenz mit vielen Illustrationen angeht, vorbildlich unterstützt. Diese Dokumentation wählt nicht aus, argumentiert nicht, sie verdeutlicht im widersprüchlichen Nebeneinander der Zeugnisse, was es für einen Musiker mit weitreichenden Verantwortungen hieß, mit dem zurechtzukommen, was der Untertitel Wechselspiel nennt. Darüber hinaus gewinnt das Bild einer starken, ihrer selbst sicheren Persönlichkeit Kontur, deren auch im Musizieren erkennbare Geradlinigkeit genauestens abgewogen werden sollte gegen manches, was uns befremdet. Insgesamt ein längst fälliger, überaus gelungener Beitrag zur Erinnerung an einen großen Dirigenten.
Peter Gülke