Herbstreise. Mein Paganini

Florian Mayer (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Donatus Verlag
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 70

Wäre die vorliegende Produktion im Pop-Sektor erschienen, würde man sie ohne Umschweife als „Konzeptalbum“ bezeichnen. Tatsächlich besteht das Anliegen der Veröffentlichung darin, mithilfe von Musik und (zu lesenden wie zu hörenden) Texten sowie unterstützt durch atmosphärische Herbstfotografien eine Geschichte zu erzählen. In deren Mittelpunkt stehen der Geiger und Komponist – oder nach heutiger Terminologie: der „composer-performer“ – Niccolò Paganini, seine aufreibende Reise- und Konzerttätigkeit und seine Begegnung mit anderen schöpferischen Persönlichkeiten.
Auf wissenschaftlich akkuraten Informationen basierend (ein Quellenverzeichnis am Ende des 52-seitigen Hardcover-Begleitbuchs macht darauf aufmerksam), hat sich der Geiger Florian Meyer musikalisch mithilfe seines Instruments sowie verbal durch den Vortrag von selbst verfassten, poetisch-reflexiven Texten und Gedichten unterschiedlicher Herkunft (etwa von Johann Wolfgang Goethe und Georg Trakl) in nicht-chronologischer Abfolge mit einzelnen Stationen von Paganinis Künstlerbiografie auseinandergesetzt. Entstanden ist dabei ein sehr persönliches Hör- und Lesestück, in dem die Klänge mitunter als Widerhall der verbal referenzierten Außenwelt erscheinen oder die biografischen Hintergründe in den sehr freien Umgang mit den musikalischen Vorlagen einfließen.
Beispielsweise greift Meyer vor dem Hintergrund von Paganinis Schottlandreise im Jahr 1831 den Umstand auf, dass der Geiger in Edinburgh Variationen über das bekannte Volkslied Scot Wha Hae gespielt hat, und lässt eine am Klang eines Dudelsacks orientierte Wiedergabe dieses Liedes in eine analog behandelte Lesart von Paganinis Capriccio op. 1 Nr. 2 münden. Die mehr oder minder flüchtigen Beziehungen zu Frauen wiederum werden gespiegelt in den einzigen nicht-solistischen Musikstücken der Produktion, den beiden Sätzen des Duetto II, bei denen sich der Cellist Norbert Anger dem Geiger partnerschaftlich hinzugesellt.
Und dann sinnt Meyer noch über Parallelen und Unterschiede zu anderen Künstlerpersönlichkeiten dieser Zeit nach, lässt in Wort und/oder Musik die Geiger Louis Spohr, Pierre Rode, Rodolphe Kreutzer, Louis Spohr, Heinrich Wilhelm Ernst und Karol Linpiński zum Zuge kommen oder holt gar die Komponisten Franz Schubert und Robert Schumann als Zeitzeugen mit Liedbearbeitungen für Solovioline auf die imaginäre Bühne. In einer der dichtesten Szenen seiner auf zwei CDs angeordneten und in drei Abschnitte eingeteilten Herbstreise trägt Meyer Ernsts eminent schwierige „Erlkönig“-Caprice vor, über die er rezitierend den Text von Goethes bekannter Ballade legt, damit auf besondere Weise die unheimliche Atmosphäre mit den Umständen des ständigen Reisens vermittelnd. Eine ebenso originelle wie empfehlenswerte Klangreise – interessant für all jene neugierigen Personen, die mehr erwarten als nur die immergleichen Werke in neuen, oft austauschbaren Aufnahmen.

Stefan Drees