Henri Marteau
Violinkonzert C-Dur op. 18/Serenade op. 20
Nicolas Koeckert (Violine), Deutsche Radio Philharmonie, Ltg. Raoul Grüneis
Henri Marteau, 1874 in Reims als Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren und 1934 in Lichtenberg (Oberfranken) verstorben, wird vor allem als einer der bedeutendsten Geiger zur Wende ins 20. Jahrhundert erinnert: Er wurde etwa als Nachfolger Joseph Joachims 1908 an die Berliner Musikhochschule berufen (damals die vielleicht renommierteste Geigenprofessur in Deutschland) und hat im selben Jahr Regers allzu sehr vernachlässigtes, geradezu formsprengendes Violinkonzert uraufgeführt. Und obwohl er als gebürtiger Franzose 1915 im Ersten Weltkrieg als „feindlicher Ausländer“ seine Berliner Professur verlor und in Lichtenberg (Oberfranken), wo er 1913 eine stattliche Villa bezogen hatte, Hausarrest erhielt, behielt er auch nach dem Krieg diesen Wohnsitz bei, nahm jedoch die schwedische Staatsbürgerschaft an und unterrichtete in Prag, Leipzig und Dresden.
Als Komponist – er war Schüler von Théodore Dubois in Paris, bei dem etwa auch Dukas, Magnard oder Ropartz studierten – ist er freilich nicht recht bekannt geworden, obwohl er an die 45 Werke komponierte. So hat sich etwa auch sein hier sehr niveauvoll eingespieltes, unverkennbar von Max Bruch (etwa Schottische Fantasie) beeinflusstes Violinkonzert (er selbst führte es 1919 in Göteborg erstmals auf) nur als Klavierauszug erhalten.
Raoul Grüneis hat es nicht nur vorzüglich neu instrumentiert, sondern auch die vorliegende Einspielung als Dirigent betreut. Marteau gab dem dreisätzigen Werk die Reger’schen Dimensionen: Der 1. Satz etwa dauert länger als das gesamte 1. Violinkonzert von Prokofjew.
Nicolas Koeckert spielt mit unerschöpflicher Energie den vertrackten, kniffligen, aber stets gut liegenden und trotz der Länge des Werks keinesfalls überfordernden Solopart mit gleichsam souverän-verhaltener Brillanz, die in jedem Moment sich auf den reich ausgestalteten Orchesterpart bezieht oder sich von ihm tragen lässt. Und da die Deutsche Radio Philharmonie diesen Part sehr engagiert und musikalisch differenziert verlebendigt, liegt eine Einspielung vor, die Marteau nun endlich auch als Komponist breitere Aufmerksamkeit verschaffen sollte: Das Adagio „In Memoriam“ im Zentrum des Werks reicht mit seinem verhalten-melancholischen Tonfall ohne Sentimentalität durchaus an den Brahms’schen Lyrismus heran.
Die klangvolle, ungefähr zeitgleich mit dem Violinkonzert entstandene Serenade op. 20 wiederum rückt die Bläser des Orchesters ins beste Licht: Das ist eine vergnügliche, beschwingt-prägnant musizierte Komposition, die gleichsam „deutsche“ satztechnische Gediegenheit mit „französischem“ Spielwitz und Eleganz verbindet. Man mag stilistisch von einer Antizipation des Neoklassizismus sprechen, doch hält Marteau die Musik von verfremdenden oder parodistischen Zügen gänzlich frei. Die Musik vermittelt vielmehr zwischen Musikkulturen, die oft gegeneinander ausgespielt werden, in Wirklichkeit aber komplementär aufeinander bezogen werden können.
Giselher Schubert