Haydn – An Imaginary Orchestral Journey
London Symphony Orchestra, Ltg. Simon Rattle
Jeder Dirigent hat seine Favoriten unter den Komponisten. Diese Vorlieben schlagen sich in der Programmgestaltung und in der Medientätigkeit nieder. Simon Rattle, der scheidende Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hat in den Jahren dieser Partnerschaft seine Neigung zu Joseph Haydns Orchestermusik nachhaltig gepflegt, und er hat sie in seine neue Position in London mitgenommen.
Jüngstes Dokument von Rattles Haydn-Auseinandersetzung ist eine CD, die auf den ersten Blick eher Ratlosigkeit erzeugt. Spontan könnte man fragen: Wer braucht denn das? Es handelt sich um einen orchestralen Querschnitt durch Haydns Orchesterwerke, im Sinne von „Best oft Haydn“. Es reihen sich insgesamt dreizehn Einzelsätze zu einem symphonischen Zyklus aneinander, entnommen aus frühen und späten Symphonien, aber auch aus den beiden Oratorien Schöpfung und Jahreszeiten, ergänzt durch Passagen aus einer Oper (L’isola dishabitata) und aus dem Zyklus Die sieben letzten Worte, effektvoll kontrapunktiert durch Stücke für eine Flötenuhr.
Anfängliche Zweifel am Sinn dieses Unternehmens legen sich nach ersten Anhören zumindest partiell, aus zwei Gründen. Zum einen löst Rattles Auswahl tatsächlich wachgerufene Erwartungen ein, denn es handelt sich durchweg um bemerkenswert originelle, oft geradezu exemplarische Beispiele des Haydn’schen Orchesterkosmos, im Hinblick auf ihre strukturelle, harmonische, melodische oder auch instrumentatorische Originalität. Allerdings muss man fairerweise sogleich hinzufügen, dass Originalität ohnehin eines der wesentlichen Kennzeichen Haydns ist – man könnte in der Tat ohne Mühe noch etliche andere Zyklen dieser Art aus Haydns Werk zusammenstellen.
Zusätzlich gewinnt die vorgelegte Kompilation ihren Wert durch die interpretatorische Ausführung. Unter Rattles Leitung profiliert sich das Londoner Orchester als internationales Spitzenensemble von großer klanglicher Ausgeglichenheit und bemerkenswerter stilistischer Wendigkeit, unterstützt durch eine exzellente Aufnahmetechnik. Wesentliche Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis werden umgesetzt, ohne dass sie sich in den Vordergrund drängen. Rattles Erfahrung im Umgang mit dieser Musizierpraxis und seine subtile Kenntnis der Haydn’schen Musik sorgen für Souveränität und Sicherheit wie für spürbare Musizierfreude. Es handelt sich hier um einen Zusammenschnitt aus zwei Konzerten, wobei man sich den (überflüssigen) Gag eines durch Haydn provozierten zu frühen Schlussbeifalls (eingeblendet im Finale der Symphonie Nr. 90) nicht verkneifen konnte; das Beiheft könnte informativer sein.
Vielleicht ist dieser musikalische Querschnitt tatsächlich dazu geeignet, den nach wie vor unterschätzten Joseph Haydn Nicht-Kennern näher zu bringen. Auf jeden Fall sollten wir die Bemühungen eines so prominenten Dirigenten um einen der größten Meister der Musikgeschichte würdigen – erstaunlich wenige seiner prominenten Kollegen teilen leider dieses Interesse.
Arnold Werner-Jensen