Saint-Saëns, Camille

Havanaise

pour violon avec accompagnement de piano op. 83, Urtext, hg. von Christine Baur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2012
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 66

Im Herbst 1885 unternahmen Camille Saint-Saëns und der junge kubanische Geiger Rafael Diaz Albertini eine Konzerttournee durch Nordfrankreich und die Bretagne. Ob es nun eine Habanera von Pablo Sarasate war, die auf dem Konzertprogramm stand, oder die Heimat Albertinis den Komponisten inspirierte: Jedenfalls warf Saint-Saëns Ende Oktober in einem Hotelzimmer am knisternden Kaminfeuer die ersten Skizzen für eine Havanaise, einen kubanischen Tanz, aufs Papier. Wann die Uraufführung der 1888 fertiggestellten Fassung für Violine und Klavier erfolgte, die nun bei Bärenreiter als Urtextausgabe erschienen ist, lässt sich nicht mehr klären. Wohl aber war es Diaz Albertini, der die von Saint-Saëns’ Verleger Auguste Durand erbetene Orchesterfassung noch im selben Jahr öffentlich spielte.
In dieser Fassung „für ein kleines Kitschorchester“ (so der Komponist in einem Brief an den Verleger) kannte und liebte das Publikum die Havanaise. Mit ihrer ausgewogenen Mischung von genüsslich schwelgenden und rascheren Passagen im Sautillé bot sie den großen Violinsolisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts willkommene Gelegenheit zu glänzen. Mit acht Minuten Länge ist das virtuose Werk allerdings zu kurz, um heute den Weg in ein reguläres Konzertprogramm zu finden, und fast etwas zu lang für eine Zugabe.
Jascha Heifetz’ Aufnahme zeigt exemplarisch, wie ein selbstbewusster Virtuose mit den Noten umging, als Urtext-Ausgaben noch nicht erfunden waren. Der Geiger hatte die Havanaise als „Showpiece“ im Programm: Die Habanera-Passagen sang er mit Schmelz aus und teilte den Strich generell sehr viel öfter als angegeben. Einerseits ist das durch die romantisch durchgeschliffenen Lagenwechsel erklärbar; an anderen Stellen merkt man jedoch, dass es Heifetz um eine schlüssigere Rhetorik ging. So teilt er etwa die in der Durand-Ausgabe gebundenen Triolen-Achtel des Themas, um sie einer späteren, in Oktaven gesetzten Variante anzugleichen. Und eine ursprünglich gebundene Sechzehntelpassage spielt er im Spiccato, weil das ihre Reminiszenz im Ricochet noch reizvoller klingen lässt.
Solcherlei aufführungspraktischen bzw. „interpretations-philosophischen“ Überlegungen geht die Herausgeberin Christine Baur, die in ihrem textkritischen Kommentar noch jede winzigste Ungenauigkeit vorheriger Ausgaben auseinandernimmt, jedoch nicht nach. Über eine hochinteressante Aufnahme aus dem Jahr 1919, die uns den Geiger Gabriel Willaume und Camille Saint-Saëns persönlich an den Tasten zu Ohren bringt, heißt es lediglich, die dort wiedergegebenen Tempi entsprächen „im Allgemeinen den Vorgaben des Notentextes“. Dass bereits Willaume den Bogen freier und öfter unterteilte und beispielsweise die Übertaktbindungen, die beim Überfliegen der Noten sofort ins Auge fallen, wie selbstverständlich wegließ, wäre der beste Ansatz einer umfassenden Interpretationsanalyse, die mir für die Musizierpraxis des Werks mindestens ebenso wichtig erschiene wie Baurs minutiöse Quellenkritik.
Martin Morgenstern