Igor Levit/Florian Zinnecker

Hauskonzert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Carl Hanser, München 2021
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 70

„Da setzt jemand den Radiergummi an und radiert mich einfach weg.“ Passiert ist das Igor Levit, dem der Jurist einer Agentur sagte, er gehöre zu einer Bevölkerungsgruppe, „die hier zu leben nicht mehr vorgesehen war“. Zu lesen ist das (irgendwo) mittendrin in Igor Levits Buch, reagiert hat er darauf und auf vieles andere per Twitter, „als Staatsbürger“.
Damit (ver)stößt der Weltklasse-Pianist gegen die gängige „Das tut man nicht“-Haltung: Ein Künstler hat ein Künstler zu sein, sonst nichts. Auf Morddrohungen reagiert Levit, als „jüdischer Kontingentflüchtling“ (was für ein Wort!) aus Russland gekommen, so: „Das Wort Mensch ist ein jiddisches Wort. A Mensch ist ein guter Mensch.“ Verstörend und beschämend zugleich sind solche Passagen, doch betitelt und beworben wird das Buch mit Levits Erfahrungen während der lange dauernden Pandemie. Zu diesen titelgebenden „Hauskonzerten“ kommt man in dem Buch aber erst ein ganzes Stück weiter hinten.
So wie viele Künstlerbiografien jüngerer Zeit ist es aus Gesprächen mit einem Co-Autor (Florian Zinnecker) entstanden, die ausführlich wiedergegeben werden. Da öffnet Igor Levit nicht nur seine Künstlerseele weit und erzählt, dass er auf der Klavierbank gesessen habe, als Gleichaltrige sich und die Welt erforschten. Gerade einmal 34-jährig hatte er am Etikett „Jahrhundertpianist“ zu tragen, was auch seine Agentin nicht verhindern konnte. Nicht nur seine Mutter sagt: „Er spielt, wie es ihm passt.“
Von Angst, Alleinsein und Zweifeln ist oft zu lesen; aber auch Spaßiges und jiddische Witze finden sich, spürbar auch Freude an Menschen. So faszinierend wie irritierend ist eine Aussage wie: „Ich spiele, ich mache die Regeln.“ Zum Buch dazu gehört die Pianistenpoesie des Journalisten Zinnecker – „Igor redet, wie er Klavier spielt“ –, der aber bei Statements wie „mich interessiert Musik, die größer ist als das Klavier“ nicht nachfragt.
Vom kumpeligen „Igor“ abgesehen, sind die langen Gesprächspassagen das Beste am Buch, auch wenn sie häufig sinnentstellend unterbrochen werden. Denn unter angesagten „#“-Zwischentiteln ist der Text sehr luftig gesetzt, sodass es doch 304 Seiten werden.
Dann endlich die Hauskonzerte, zu denen Levit von Lockdown und Lebensstillstand getrieben wurde, denn „ich würde es nicht schaffen, Musik für mich alleine zu machen“. Also bastelt der Pianist sich mit Handy, Kamera und Mikrofon eine Ausrüstung und spielt, „in Socken“, wie Zinnecker notiert, die „Waldstein“-Sonate. 80 000 Menschen hören via Twitter zu, 300 000 klicken später drauf. Es ist zugleich wütender Widerstand gegen die Zeit, aber auch Lebensmittel für Levit und das Publikum. Der Pianist sieht seinen gesamten „Lebensentwurf vaporisiert“: „Von einem Tag auf den anderen darf ich nicht mehr sein, wer ich sein will.“
So ist es ein Buch über viel mehr als die Musik, aber der schönste Satz gilt doch ihr. Gefragt, warum er in Aspekte auftrete: „Nur, weil Beethoven halt nicht kann.“
Ute Grundmann