Constantin Goschler, Stefan Pulte
Harmonielehre – Eine Berliner Umbruchsgeschichte
Die Gründung der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH Berlin
Es waren wilde Zeiten. Die Euphorie um die deutsche Wiedervereinigung war berechtigt, aber auch bald verflogen. Entscheidungen darüber, was aus der DDR und was aus dem ehemaligen Ost- und West-Berlin überflüssig, überholt, nicht länger gewünscht war, prägten auch die Rundfunk- und Kulturpolitik der frühen 1990er Jahre.
Dass die 1994 gegründete Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH (ROC) zu ihrem 30. Geburtstag im Herbst 2024 die Herausgabe dieser kleinen Chronik veranlasst hat, ist aller Ehren wert. Lässt sich doch gut nachvollziehen, welchen unterschiedlichen Einflüssen und Begehrlichkeiten die Klangkörper des Rundfunks der DDR in Ost-Berlin und ihre Pendants in West-Berlin ausgesetzt waren. Die Autoren beschreiben die Vorgeschichte der Rundfunkklangkörper bis zum Einigungsvertrag, der im Oktober 1990 die Basis für die Zukunft bildete. Die Zeit bis 1994 war für die Orchester und Chöre sowie ihre Mitglieder eine echte Zitterpartie, ging es doch ums nackte Überleben. Stellenweise liest sich das Buch im Ringen zwischen Bundespolitik, Ministerpräsidenten, Rundfunkverantwortlichen, Künstlern und Unterstützern wie ein echter Krimi.
Dass es am Ende gelang, den Bund, das Land Berlin, Deutschlandradio und den SFB (heute rbb) als Mitgesellschafter einer Träger GmbH für fünf Rundfunkklangkörper in Berlin zusammenzubringen, war kein Wunder, sondern das Ergebnis eines harten Ringens vieler Beteiligter um eine vertretbare Lösung. Die beiden Autoren beschreiben diesen Prozess recht eindrücklich unter Hinzuziehung von Protokollen, Medienartikeln, Interviews, sonstige Publikationen und Aussagen von Zeitzeugen.
Mit der Gründung der ROC im Jahr 1994 war die Kuh jedoch nicht vom Eis, da Finanzierungs- und Strukturfragen anderer Klangkörper in Berlin immer wieder auch die Rundfunkklangkörper bedrohten. Die schmerzhafte Abwicklung der RIAS Bigband als einer der fünf ROC-Klangkörper hätte dabei ein wenig mehr Beachtung verdienen können. Inhaltlich zweifelhaft ist die Einschätzung, vor allem der Zeitungsjournalist Manuel Brug habe mit seiner kritischen Berichterstattung die geplante Fusion von DSO und RSB Anfang 2010 verhindert. Man darf davon ausgehen, dass hier auf der Ebene zwischen Bund und Land Berlin mächtigere Kräfte gewirkt haben. Ein etwas gründlicheres Lektorat hätte zudem ärgerliche Fehler vermeiden können, wie zum Beispiel die Verwechslung von Kulturstaatsminister Bernd Neumann mit einem seiner Amtsvorgänger Michael Naumann.
Dennoch ist das Buch ansonsten gut recherchiert und lesenswert, da es eindrücklich belegt, an wie vielen seidenen Fäden und von wie wenigen Entscheidern das Schicksal (ab)hängen kann.
Gerald Mertens