Abels, Norbert / Elisabeth Schmierer (Hg.)
Hans Werner Henze und seine Zeit
So verschieden der Stil und die Profession der 16 Autoren auch sein mögen, so unterschiedlich diese Henze-Forscher und -Biografen, diese Literatur-, Musik- und Theaterwissenschaftler die Zugangswege zu ihrem Thema auch gewählt haben biografische, kulturlandschaftliche, stoffgeschichtliche, inhaltliche und allgemein künstlerische und so vielfältig ihre Analysemethoden erscheinen, so wenig ergibt sich daraus jene bunte Mischung, die Herzensanliegen der Herausgeber war. Womit das Buch enorm beeindruckt, ist die (Fast-)Gesamtschau über Henzes Musiktheater, die diese 18 Beiträge bieten samt Ausflügen in andere (keineswegs fernliegende) Gattungen: hin zum Vokalzyklus Voices und zu den Violinkonzerten, die auf Programmatisches, Szenisches und Politisches nicht verzichten und die, wie Henzes Opernwelt, an Aktualität nichts eingebüßt haben.
Henze hat einmal davon gesprochen, dass sich sein Schaffen aufs Theater zu bewege und von dorther zurückkomme. Später formulierte er: Wir haben alle gute Gründe zur Hand, um Musik als darstellende Kunst begreifen zu dürfen. Und immer wieder insistierte er auf eine Musica impura, die das Alltägliche in die Kunst, Idiome niederer Musik in die Kunstmusik integriert kein Patchwork in der Art des postmodern Sinnleeren und Unverbindlichen freilich, sondern eine Tonsprache mit prägnanten Inhalten und nahe bei den Menschen.
Diese vielfältigen Aspekte bieten nun den Interpreten der Werke und Kommentare, der Ästhetik und des Engagements Henzes für ihren Rundgang von Ein Landarzt hin zu Gisela jede Menge Bezugspunkte und ein großes Betätigungsfeld. Sie betrachten Märchen, Mythos und Commedia dellarte als Gegenstände seiner Bemühungen; sie sehen Radiophonie, surrealistisches Spiel und Action for music als neue Mittel seines Gestaltens und die Zusammenarbeit mit Ingeborg Bachmann bei Ballett und Literaturoper im Fokus von Gegenwartsakzentuierung. Ihnen entgeht nicht, wie beim Versuch, gesellschaftlichen und künstlerischen Fortschritt zu vereinen, der Henze auch zum Außenseiter machte, die Anmutungen der Realität den Kunstcharakter der Musik stark problematisieren können. Und wir lesen Werkeinführungen, die sich findig den Sujets und deren Wurzeln und Geflechten, der Handlungs- und Figurenanalyse, der musikalischen Gestaltung und der Bühnen-Rezeption widmen.
Alle diese Texte, zumeist Beiträge für ein Symposium, das anlässlich des Henze-Projekts in der Kulturhauptstadt Europas RUHR 2010 stattfand, oder für Programmhefte und Vorträge geschrieben, dazu eine umfangreiche Chronik, Werk- und Literaturverzeichnisse, Notenbeispiele und der Bildteil machen das Buch zum informationsreichen Kompendium. Und damit ist der Sammelband hervorragend in jener Reihe des Verlags platziert, die sich seit Langem die Präsentation Große Komponisten und ihre Zeit zur Aufgabe gemacht und mit Standardwerken bedient hat. Henze hätte es gewiss gefreut, derart als der bedeutendste deutsche Komponist der Gegenwart gewürdigt zu werden.
Eberhard Kneipel