Köpp, Kai

Handbuch Historische Orchesterpraxis

Barock, Klassik, Romantik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2009
erschienen in: das Orchester 12/2010 , Seite 66

Die Bedeutung der historischen Aufführungspraxis ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen. Die zahllosen Spezialensembles für Alte Musik haben die Hörgewohnheiten des Publikums inzwischen so weit verändert, dass man auch von nichtspezialisierten Opern- oder Sinfonie­orchestern selbstverständlich erwartet, Barockmusik anders zu spielen als Mozart, Beethoven oder Wagner. Was genau aber heißt das in der Praxis?
Auch wenn Cover und Klappentext von Kai Köpps umfassend recherchiertem Handbuch suggerieren, es handle sich um einen Leitfaden für alle Instrumentengruppen, ist es fast ausschließlich ein Buch für (Tutti-)Streicher, die als „Ripienisten“ einen in Strichorganisation und Ausdruckscharakter möglichst einheitlichen Vortrag ihrer Stimme erreichen sollen – damals wie heute eine weithin unterschätze Aufgabe, wie ein Zitat aus Leopold Mozarts Violinschule von 1756 belegt: „Man schliesse nun selbst ob nicht ein guter Orchestergeiger höher zu schätzen sey, als ein purer Solospieler? Dieser kann alles nach seiner Willkhur spielen, iener aber muss alles vom Blatte weg abspielen und er muß sich meistens nach andern richten. Ein guter Orchestergeiger muß viele Einsicht in die ganze Musik, in die Setzkunst und in die Verschiedenheit der Charakters haben, um seinem Amte mit Ehren vorzustehen.“
Möchte man jedem aufzuführenden Stück die ihm gebührende stilistische Gerechtigkeit zukommen lassen, ist in der Tat „viele Einsicht“ vonnöten: Köpps ausführliche Analyse der verfügbaren Quellen und Lehrbücher (von Muffats Florilegium secundum über Quantz’ Anweisung bis hin zu den Violinschulen von Mozart und Spohr) zeigt nämlich vor allem, dass es allein beim Thema Bogenstriche (dem sich der Großteil des Buches widmet) mitnichten nur eine historische Orchesterpraxis gibt, sondern deren viele: Die „musikalische Orthografie“ am französischen Hof unter Lully unterschied sich beispielsweise erheblich von der durch Pisendel in Dresden geprägten mitteldeutschen Tradition oder der wiederum gänzlich anderen Praxis in Mannheim oder Wien. Es reicht also nicht, nur über die Bedeutung von „verkehrtem Strich“, „kurzem Spiel“ oder dem „Violinisten-Absatz“ Bescheid zu wissen; auch der zeitliche und geografische Ort ihrer Anwendung muss jeweils berücksichtigt werden.
Dass hier selbst moderne Urtext-Ausgaben nur bedingt weiterhelfen, ist die zweite wichtige Erkenntnis des Buches: Notiert wurde von den Komponisten nämlich meistens nur das, was von der gängigen Konvention abwich – man muss die Regel deshalb über die Ausnahmen definieren, nicht umgekehrt. Besonders markant zeigt dies (als eines von 14 Fallbeispielen im letzten Kapitel) ein Ausschnitt aus Beethovens Pastorale, wo man nicht nur die vorgegebene Artikulation beachten, sondern an den richtigen Stellen auch die damals üblichen (aber nicht notierten) Bogenstriche ergänzen muss. Die einfache Wahrheit gibt es eben leider auch hier nicht – die „Einsicht in die ganze Musik“ ist nur mit eingehendem Studium zu erreichen.
Joachim Schwarz