Johannes Killyen

Halle an der Saale: Gut aufgelegte Rettungstat

Charles Gounods Oper „Faust“ an der Oper in Halle an der Saale

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 46

Goethes größtes dramatisches Gedicht verkannt und verwässert, ein Liebesdrama fernab aller philosophischer Tiefe. Dies sind, kurz zusammengefasst, die Vorwürfe an Charles Gounods Oper Faust, wie man sie noch in Opernführern der 1960er Jahre lesen kann. Zähneknirschend wird immerhin der Musik einige Qualität zugestanden. Alles andere wäre einer Beschimpfung des Publikums gleichgekommen, das mit den Füßen abstimmte, und zwar für den Faust, der in Deutschland oft als Margarete auf die Bühne kam.
Mit Blick in die Theaterspielpläne zwischen Hamburg und München muss diese 1859 uraufgeführte und zehn Jahre später revidierte französische Oper über den vermeintlich deutschesten aller Stoffe längst nicht mehr gerettet werden. Sie ist omnipräsent, gewiss nicht nur wegen der Musik. An der Oper in Halle an der Saale darf die Neuinszenierung des Faust dennoch als Rettungstat gelten, liegt die letzte Produktion doch 72 Jahre zurück. In der aktuellen Spielzeit hat Intendant Walter Sutcliffe das Werk nicht nur an die Spitze der Neuproduktionen gesetzt. Er führt auch selbst Regie und outet sich als Fan von Gounods Faust-Lesart, der – so Sutcliffe – ganz mit Goethe den Blick auf das Leid der Frauen gelenkt habe.
Seine Inszenierung verlegt der Brite in eine zwischen den 1950er und 1970er Jahren angesiedelte Spaßgesellschaft. Hier haben Männer das Sagen und werden Frauen in geblümten Petticoats (Kostüme: Dorota Karolczak) zu Objekten ihrer Sinnesbefriedigung. Fröhliche Bauerngesänge der gut aufgelegten und spielfreudigen Opernchöre (Einstudierung: Johannes Köhler) verhallen in einer Kunstwelt vom Reißbrett, die nur Theater im Theater zu sein scheint. Gott Vater ist von Goethe entliehen und thront als Karikatur seiner selbst über den Wolken (Bühne: Kaspar Glarner).
Stellvertretend für die weibliche Unterdrückung steht Margarethe, die dem alternden Faust vom Teufel Mephisto zu Beginn als riesenhafter Multicolor-Köder auf dem Bühnenvorhang angepriesen wird. Das Gretchen wird mit Diamanten gefügig gemacht, entbrennt in Liebe zu Faust, wird geschwängert, treibt das Kind aus Verzweiflung ab und wird von scheinheiligen Anstandsbürgern dafür verdammt. Ihr Bruder Valentin (Andreas Beinhauer mit Durchschlagskraft und Pathos) hat nur seine eigene Soldatenehre im Sinne, Faust wiederum zeigt erst am Ende Reue. Und Mephisto reibt sich die Hände.
Nach zwei Akten beginnt die Oper, in ihrer ganzen Anlage, aber gerade auch in der halleschen Inszenierung, lang zu werden mit all den Polkas und Walzern. Ki-Hyun Park als Mephisto im Yakuza-Look schmettert ihnen sein Rondo vom Goldenen Kalb entgegen. Allein, das Geschehen lässt einen kalt und die Obszönitäten nehmen überhand. Das ist freilich eingeplant und lässt den dritten Akt als Kontrast umso deutlicher hervortreten. Hier werden Typen zu Menschen.
Chulhyun Kim als Faust darf zwar von Beginn an seine Midlife-Crisis beklagen, darf mit Mephistos Hilfe neue Lust am Leben finden – er tut dies mit schlankem Tenor, immer wieder strahlend in der Höhe, bisweilen eng in der Kehle. Franziska Krötenheerdt als Margarete tritt jedoch erst in der Gartenszene richtig in Erscheinung und stiehlt dem Faust die Schau. Mustergültig ist ihre Stimmführung, sanft bebt ihr Vib­rato, prägnant und doch mit festem Sitz abgerundet. Diese Margarete findet als Verzweifelte und Verdammte im vierten und fünften Akt zu heroischer Größe, während Faust sich in einem als Theater getarnten Edelbordell vergnügt. Sie lässt sich am Ende in einem Akt der Selbstbefreiung nicht von den himmlischen Heerscharen und nicht von Gott retten, sondern steigt allein in den Himmel – eine Gottes- und Teufelsdämmerung. Indes: Gott einfach nur als alten weißen Mann darzustellen, das ist doch ziemlich wohlfeil.
In der halleschen Faust-Inszenierung sind auch die kleineren Rollen (Yulia Sokolik/Siebel; Gabriela Guilfoil/Marthe und Michael Zehe/Wagner) gut besetzt. Im Orchestergraben spielt unter Leitung von Chefdirigent Fabrice Bollon durchsichtig-präzise, aber auch gewaltig auftrumpfend die Staatskapelle Halle. Sie besteht mühelos gegen die hellhörige und kammermusikalisch-trockene Akustik des Saales, intoniert gerade in den vielen Blechbläserchorälen blitzsauber, schafft trotz eines trockenen Ambientes immer wieder auch sakrale Atmosphäre.
Mit Gounods Faust wurde in Halle eine „deutsche“ Spielzeit eingeleitet, die freilich keine nationalistische Selbstbespiegelung ist, sondern Texte deutscher Dichter aus unterschiedlichster Perspektive musikalisch beleuchtet. Dazu gehört eine Bearbeitung von Mozarts Schauspieldirektor mit Puppentheater, aber auch der Goldene Drache von Peter Eötvös, Richard Strauss’ Rosenkavalier und Brittens Tod in Venedig. Die Händelfestspiele bieten im Mai 2023 Xerxes als Neuinszenierung. Die Staatskapelle spielt in ihren Sinfoniekonzerten große Sinfonik von Bruckner über Mahler und Schostakowitsch bis Strauss, aber auch viel Unbekanntes – und sucht mit verschiedensten Formaten die Nähe zu unterschiedlichen Zuschauergruppen.