Gerhaher, Christian

“Halb Worte sind’s, halb Melodie”

Gespräche mit Vera Baur

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Leipzig 2015
erschienen in: das Orchester 09/2015 , Seite 70

Nein, einfach hat er es sich nie gemacht, der große Bariton Christian Gerhaher. „Welches Verstehen ist überhaupt verlässlich?“, lautet einer seiner Grundsätze. Und getreu dieser Frage bekommt der Leser des vorliegenden Buchs auch an keiner Stelle simple, leicht verdauliche Statements geliefert. Gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Vera Baur unterhielt sich Gerhaher ausführlich über Themen, die ihm am Herzen liegen.
Der Titel Halb Worte sind’s, halb Melodien ist einem Eichendorff-Gedicht entnommen und leitet bereits auf einen Hauptinhalt des Bandes hin: das Genre des Lieds, zu dem Gerhaher sich besonders hingezogen fühlt und dem er sich von Beginn seiner Karriere an mit großer Hingabe gewidmet hat. So erfahren wir Grundlegendes über das, was nach Ansicht des Sängers die Essenz des Genres darstellt, aber auch über die verschiedene Art des Zugangs, den die Komponisten, denen Gerhaher sich verbunden fühlt – dies sind Schubert, Mahler, ganz besonders aber Schumann –, zur Gattung des Lieds wählten.
Gerhaher scheut sich dabei auch nicht, Monumente vom Sockel zu stürzen, etwa Brahms für dessen vermeintliche Sentimentalisierung des Volkslieds zu kritisieren oder auch Strauss für dessen unreflektierte Textauswahl und -behandlung. Überhaupt nimmt der Sänger kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, Klartext zu reden, zum Beispiel wenn es um die von ihm verschmähte Eventkultur geht oder die immer weiter um sich greifende Verflachung der Medienlandschaft. Allerdings tut er dies nie von oben herab – nachdenklich und selbstkritisch ist er auch dann, wenn er urteilt.
Das betrifft nicht zuletzt auch seine Ausführungen zum Opernbetrieb und zum Regietheater, als dessen Anhänger er sich bekennt: „Ich finde, in der Oper muss weiterhin alles möglich sein. […] Es gibt eben keine eindeutige Sicht eines Schöpfers auf sein Werk, und vor allem keine, die eingeklagt und reproduziert werden könnte.“ Gerhaher, der seit einiger Zeit auch unterrichtet, spricht zudem ausführlich über die physiologischen As­pekte des Singens und über die Fallstricke der sängerischen Ausbildung. Zu den faszinierenden Stellen des Bandes gehören jedoch seine Ausführungen über Werke, zu denen er eine besonders innige Beziehung hat: Schumanns Faust-Szenen, Schönbergs Fünfzehn Gedichte aus Das Buch der hängenden Gärten, die Lieder Gustav Mahlers oder Mozarts Don Giovanni, dessen Titelpartie er auf der Bühne gestaltet hat. Hier zeigt sich des Sängers universelle, auch literarische und philosophische Bildung auf imponierende Weise.
Schlussendlich sei auch der Gesprächsführung Vera Baurs großer Respekt gezollt. Weder betätigt sich Baur als bloße Stichwortgeberin noch stellt sie ihre eigene Person bzw. ihre Meinung über Gebühr in den Vordergrund. Vielmehr erarbeitet sie die Themen mit Gerhaher gemeinsam, hakt gelegentlich auch nach, wo es angebracht ist – selbst auf die Gefahr hin, vom Sänger höflich formulierte Widerworte serviert zu bekommen. Das liest man einfach gern – auch mehrmals.
Thomas Schulz