Händels Kirchenmusik und vokale Kammermusik
Das Händel-Handbuch Bd. 4, hg. von Hans Joachim Marx in Verbindung mit Michele Calella
Sicher unbeabsichtigt, aber passend zum Jahr der Kirchenmusik in der Luther-Dekade ist dieser Band zu Händels Kirchenmusik und seiner vokalen Kammermusik erschienen, mit dem zugleich das sechsbändige (in acht Teilbänden) Händel-Handbuch seinen Abschluss findet. Im Unterschied zum alten fünfbändigen Händel-Handbuch, das in drei Bänden Bernd Baselts Werkverzeichnis, einen Band nach Otto Erich Deutschs Dokumentar-Biografie und eine Bibliografie brachte, ist das “neue” auf Werkbeschreibung und Deutung sowie die Einordnung der Kompositionen Händels in ihre Zeit und ihre Funktion im Musikleben des 18. Jahrhunderts ausgerichtet. So finden sich in dem vorliegenden Band nicht allein Beiträge zu Händels in Italien komponierten katholischen Werken oder den in England entstandenen Anthems oder Te Deum- und Jubilate-Vertonungen, sondern ebenso aufschlussreiche Beiträge zur römisch-katholischen Musik im frühen 18. Jahrhundert oder zur Musikpraxis der anglikanischen Kirche. Auch Händels, des aus Halle stammenden Lutheraners Verhältnis zur evangelischen Kirchenmusik und zum englischen Pietismus seiner Zeit werden beleuchtet.
Das Händel-Handbuch ist ein Werk unterschiedlicher Autoren, ausgewiesenen Spezialisten in den jeweils von ihnen behandelten Themen. Das sorgt für hohe fachliche Kompetenz der Beiträge, macht den Band im Zusammenhang aber ganz zwangsläufig auch etwas uneinheitlich, was nicht bemängelt, sondern nur festgestellt sei.
Der Herausgeber, der renommierte Hamburger Händel-Forscher Hans Joachim Marx, setzt in seinen eigenen, bewährt kenntnisreichen Texten u.a. mit einer sehr interessanten und schlüssigen These zur Entstehung der Kantate Silete venti HWV 242 auch einen individuellen Akzent, indem er in einem längeren Exkurs das von ihm Ende des vergangenen Jahrhunderts wiederentdeckte Gloria behandelt, das 2001 bei den Händel-Festspielen in Göttingen erstmals wieder erklang. Marx geht intensiv auf das Stück ein, dessen Echtheit er gegen alle Zweifel betont.
Die Kirchenmusik ist dem Umfang nach eine eher bescheidene Werkgruppe im Schaffen Händels, aber sie wirkt besonders bei den in Italien entstandenen Kompositionen lange nach. Das gilt auch für die große Zahl von Kammerkantaten und -duetten, die ebenfalls zumeist in den italienischen Jahren entstanden und die Händel vielfach als Material für spätere Werke benutzt hat. Zum Beispiel im Messiah, in dem er aus der Musik der frühen Duette gewichtige Chorsätze gemacht hat. Sie werden in dem Band ebenso vorgestellt wie Händels Lieder und Arien in verschiedenen Sprachen sowie die zurecht sehr beliebten Neun deutschen Arien auf Texte von Brockes, die gattungsmäßig zwischen Kirchenmusik und vokaler Kammermusik stehen.
Es ist sehr erfreulich, nicht nur für Musiker und Musikwissenschaftler, sondern auch für die wachsende Zahl von Händel-Liebhabern, dass in dem vorliegenden, mit über hundert Abbildungen versehenen Band das aktuelle Wissen um diese keineswegs unbedeutenden “Randgruppen” in Händels Werk nun so umfangreich zusammengetragen und spannend aufbereitet ist.
Karl Georg Berg