Pedro Obiera
Aachen: Gute Ensemblearbeit
Szenische Aufführung von Leo Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“ in Aachen
Im Zeichen des 150. Geburtstags von Leo Blech stand die diesjährige Saisoneröffnung des Aachener Theaters. 1871 wurde der berühmte Dirigent in Aachen geboren. Für Generalmusikdirektor Christopher Ward ein Anlass, auf das nahezu völlig vergessene kompositorische Schaffen des langjährigen Chefdirigenten der Berliner Hofoper hinzuweisen. Und das nicht nur mit einigen Orchesterstücken, sondern auch mit einer großen Oper, dem 1903 in Dresden uraufgeführten Zauberspektakel nach dem gleichnamigen Schauspiel von Ferdinand Raimund Alpenkönig und Menschenfeind. Eine Aufführung in Blechs Jubiläumsjahr verhinderte die Pandemie. Allerdings hat man eine konzertante Version per Livestream einstudiert, die internationale Beachtung gefunden hat und mittlerweile, wie auch einige der Orchesterstücke Blechs, bereits als CD erschienen ist.
Die szenische Aufführung musste bis jetzt warten. Vor der Premiere wurde Blech posthum in einem kleinen Festakt die seit 1937 zunächst von den Nazis verschwiegene und seitdem vergessene Ehrenmitgliedschaft des Aachener Theaters, an dem Blech in jungen Jahren als Kapellmeister wirkte, symbolisch zurückgegeben. GMD Ward schwärmte wiederholt von der „unglaublich schönen Musik“ der Oper. In der Tat zeigt Blech in diesem Stück, was er von seinem Lehrer Humperdinck und mehr noch als Dirigent von den Komponisten seiner Zeit im Umfeld von Wagner bis Strauss gelernt hat: eingängige Melodien, meisterhaft instrumentiert, angereichert mit märchenhaftem Kolorit. Das hört sich alles angenehm an und Wards Begeisterung ist seinem Dirigat durchaus anzumerken. Allerdings verfängt sich das Werk letztlich in der epigonenhaften Blase vieler Komponisten der Jahrhundertwende wie etwa Humperdinck oder Siegfried Wagner, die sich nicht von dem Einfluss Richard Wagners lösen, aber auch keinen Zugang zu neuen Wegen der Moderne finden konnten. Zusammen mit dem braven, naiv bodenständigen Libretto dürfte das Werk trotz mancher Meriten kaum einen festen Platz im Repertoire finden.
An der beachtlichen Qualität der Aachener Produktion ändert diese Einschätzung nichts. Die gute Ensemblearbeit schlägt sich darin trotz mehrerer Gast-Auftritte ebenso positiv nieder wie der werkdienliche Umgang des szenischen Teams. Regisseurin Ute M. Engelhardt setzt weniger auf effektvollen Bühnenzauber als auf eine genaue Personenführung, sodass man mit den bescheidenen Dekorationen von Henriette Hübschmann leben kann. Ein überdimensionaler Pferdekorpus bildet das optische Highlight, die fantasievollen Kostüme Hübschmanns suggerieren ein märchenhaftes Ambiente.
Die Handlung kreist um den cholerischen Misanthropen Rappelkopf, der seine Familie und Dienerschaft nach Kräften tyrannisiert. Der milde Alpenkönig kommt der verzweifelten Familie zu Hilfe. Er bietet Rappelkopf an, in dessen Rolle zu schlüpfen, um ihm zu zeigen, wie seine Mitmenschen unter ihm leiden. Rappelkopf ist entsetzt, wie der Alpenkönig in seiner Gestalt wütet, und zeigt sich flugs geläutert. Das Familienglück ist gesichert. Jetzt dürfen auch seine Tochter Marthe den von Rappelkopf gehassten Musiker Hans und die Dienerin Lieschen den Lakaien Hababuk heiraten.
Ein schönes Märchenspiel für die Weihnachtszeit, das allerdings nur noch bis Anfang Dezember gezeigt wird. Ronan Collett als Alpenkönig und Paul Armin Edelmann als Rappelkopf überzeugen mit ihren präsenten Baritonstimmen und ihrer Spielfreude auf gleich hohem Niveau. Desgleichen die jungen Sopranistinnen Netta Or und Anne-Aurore Cochet als Tochter Marthe und Zofe Liesel. Lyrischen tenoralen Schmelz verbreitet Soon-Wook Ka als Marthes Geliebter Hans und Joshua Owen Mills bietet eine feine Charakterstudie des Lakaien Habakuk. Turbulent und mit einer präzisen Ensembleleistung sorgt die Familie um den von Rappelkopf verstoßenen Tischler Meinhart für Leben auf der Bühne. Dazu gehören Pawel Lawreszuk, Ayaka Igarashi und Jelena Rakić, Irina Popova überzeugt als verzweifelte Gattin Sabine.
So freundlich auch das Premierenpublikum reagierte, der Besuch der Folgevorstellungen ließ doch deutlich nach. Wie vielerorts hat auch das Aachener Theater Probleme, nach der Pandemie verloren gegangenes Publikum wiederzugewinnen. Dem sollen in der letzten Saison der 17-jährigen Amtszeit von Intendant Michael Schmitz-Aufterbeck in der Oper Repertoire-Hits wie Mozarts Le Nozze di Figaro und Massenets Manon entgegenwirken. Wobei sich Schmitz-Aufterbeck nicht scheut, auch Unbequemes wie Alban Bergs Wozzeck und Raritäten wie Verdis Stiffelio und Antonio Cestis Aurora anzubieten, mit der das Aachener Theater seinen erfolgreichen Einsatz für anspruchsvolle barocke Werke fortsetzt.
Im Konzert holt Christopher Ward alles nach, was ihm die Pandemie verwehrte. Groß besetzte Zugstücke in voller Besetzung wie Mahlers erste und Bruckners vierte Symphonie, Brahms’ Ein deutsches Requiem und Elgars Traum des Gerontius, Sibelius’ zweite und Saint-Saëns’ Orgel-Symphonie. Nicht zu vergessen die Uraufführung der Americana-Suite des Jazz-kundigen Neuseeländers Alan Broadbent.
Damit möchte Ward die Magerkost der vergangenen beiden Spielzeiten vergessen lassen, aber auch die Querelen um die Programmgestaltung des letzten Konzerts vor der Sommerpause mit Werken von Rachmaninoff und Tschaikowsky. Angesichts des Ukraine-Kriegs wollte er das Programm mit Musik ukrainischer Komponisten ergänzen, was aber auf den Widerstand der ukrainischen Gemeinde in Aachen stieß. Man einigte sich darauf, zwei Konzerte mit jeweils ausschließlich ukrainischen und russischen Komponisten zu präsentieren. Ein fauler Kompromiss, der kein großes Vertrauen in die völkerverbindende Kraft der Musik erkennen lässt.