Peter Moormann

Gustavo Dudamel

Repertoire – Interpretation – Rezeption

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Franz Steiner
erschienen in: das Orchester 07-08/2019 , Seite 59

Der Zufall will es, dass in der aktuellen Krise Venezuelas eine Biografie erscheint, die sich sehr ausführlich mit dem von dort stammenden Dirigenten Gustavo Dudamel beschäftigt. Dudamel leitet inzwischen nicht nur die Premiumklasse westeuropäischer Orchester, sondern hat sich auch politisch eindeutig positioniert. Er bat nämlich Präsident Maduro, „auf die Stimme des Volkes zu hören“, und wurde daraufhin in seiner Heimat als Dirigent auf den Index gesetzt.

Biograf Peter Moormann widmet der dirigentischen Frühbegabung Gustavo Dudamel nun ein ebenso hervorragendes wie seriös gemachtes Buch – die erste wirklich umfassende Lebensbeschreibung des südamerikanischen Shootingstars. Auf 544 Seiten wird kein Aspekt der steilen Karriere dieser Künstlerpersönlichkeit ausgelassen: Herkunft, Musiksozialisation in ­Venezuela, internationaler Durchbruch und musiksoziales Handeln bis heute. Breiten Raum nimmt dabei eine ausführliche Beschreibung von „El Sistema“ ein, jenem sozial ausgerichteten venezolanischen Musikerziehungsprogramm, das zu durchlaufen für Dudamel offenbar einen großen Glücksfall darstellte.

Den Kern des Buchs bilden ­Untersuchungen zum Repertoire, zur Kommunikation sowie zur Interpretationshaltung des Dirigenten. Mit Tabellen und Grafiken weist der Autor nach, dass Dudamel einen sehr breit gestreuten Repertoireansatz verfolgt – von Händels Messias bis hin zu Uraufführungen skandinavischer Komponisten. Auch dass Dudamel (Jahrgang 1981) Marketingstrategien wie etwa ein durchdachtes Produktdesign oder Facebook-Aktivitäten nicht scheut, überrascht keineswegs. Dem Autor gelingt zudem die Beweisführung, dass Dudamel zu Recht eine hohe Akzeptanz bei den Orchestermitgliedern zugewiesen und sein Führungsstil als „visionär-charismatisch“ eingestuft wird. Detaillierte Analysen zu Zeitdauern von Seitenthemen und Körperhaltungsfragen des Dirigenten anhand von Grafiken und Fotos schließen die tief auslotende Biografie ab. Moormann bedient sich hierbei Einspielungen Dudamels zu Beethovens 5. und Mahlers 1. Symphonie. Inwieweit jedoch solche Detailuntersuchungen von wirklicher Relevanz für eine Dirigierpersönlichkeit sind, muss offen bleiben. Ganz sicher aber könnte Moormanns Dudamel-Studie als methodisches Vorbild dienen, in Zukunft eher vom Bauchgefühl gesteuerte Beurteilungskriterien von Orchesterdirigenten zu versachlichen und unter dem Gesichtspunkt der Reliabilität faktisch abzusichern.

Wer das Buch liest, muss in Kauf nehmen, eine rein wissenschaftliche Publikation vor sich zu haben. Das bedeutet: ein ambitioniertes Sprachniveau, Fußnoten zuhauf und ein Quellenverzeichnis, welches auf 153 Seiten alle Presse­artikel und Aufführungen bis ins Jahr 2016 sowie das gesamte von Dudamel dirigierte Repertoire auflistet. Dahinter steckt viel Arbeit, deren Wert sich aber durch den Effekt der steten Aktualisierung wohl irgendwann verflüchtigen wird.

Thomas Krämer