Arnold Schönberg
Gurre-Lieder
Sächsische Staatskapelle Dresden, Gustav Mahler Jugendorchester, Sächsischer Staatsopernchor Dresden, MDR-Rundfunkchor, Ltg. Christian Thielemann
Die erste Gurre-Lieder-Einspielung der Staatskapelle Dresden vor diesem Livemitschnitt entstand 1995 unter dem damaligem Chefdirigenten Giuseppe Sinopoli. Auch international ließ kaum ein Spitzendirigent Arnold Schönbergs rauschhafte, 1913 in Wien uraufgeführte Kantatensymphonie über eine Königsliebe auf der norddänischen Burg Gurre, den Zug des wilden Heers und das finale Melodram über Erinnern und Vergehen in der Natur aus. Rafael Kubelik, Claudio Abbado, Pierre Boulez, Zubin Mehta, Simon Rattle, Mariss Jansons und viele andere, bemerkenswert darunter Marc Albrecht in einer szenischen Realisierung von Pierre Audi an der Niederländischen Nationaloper, wollten sich den spätromantischen Rekordhalter in üppiger Großbesetzung nicht entgehen lassen.
Von Schönbergs erotisch-pandämonischem Monsteropus nach Jens Peter Jacobsen war es in Dresden ein zu kurzer Abstand bis zum ersten Lockdown: Nach drei Aufführungen in der Semperoper im März 2020 konnten die Wiederholungskonzerte mit – einschließlich des Gustav Mahler Jugendorchesters – 148 Musikern, sechs Solisten und 150 Chorsängern bei den Salzburger Osterfestspielen nicht stattfinden.
In nur 15 Monaten hat Christian Thielemann Liveaufnahmen von Strauss’ Frau ohne Schatten mit den Wiener Philharmonikern bei Orfeo, Wagners Meistersingern von Nürnberg und Gurre-Lieder in der Edition Staatskapelle Dresden vorgelegt. Drei aufwendige Werke, in denen archetypische Paarkonstellationen sich in orgiastischer Hymnik vollenden.
Die Neueinspielung der Gurre-Lieder behauptet sich neben der großen Konkurrenz im obersten Level, weil Thielemann in die rauschhaften Tutti-Wirkungen immer wieder lichtende Schneisen setzt und in den vielen kammermusikalischen Stellen kantablen Nachdruck ermöglicht. Nicht nur zu König Waldemars letztem Solo zeigt er, dass Schönberg während der Arbeit an den Gurre-Liedern intensiv mit seiner Harmonielehre beschäftigt war. Auch im Konzert faszinierte, wie die Personalmassen auf der bis zum letzten Quadratzentimeter gefüllten Bühne der Semperoper ein tönendes Pastell nach dem anderen erschlossen, ohne dass Farbintensitäten durch diese Verfeinerungen verblasst wären.
Eindrucksvoll geriet die mit fahlen Klängen und Pausen durchsetzte Klage der Waldtaube von Christa Mayer. Mit einer Ausnahme sind die Solisten – die großartige Camilla Nylund, Markus Marquardt, Wofgang Ablinger-Sperrhacke und im Melodram Franz Grundheber – mit emphatischem wie dynamischen Ausdruck dabei. Nur Stephen Gould bleibt in den ekstatischen, jauchzenden und schwelgerischen Stadien der Vereinigung Waldemar mit Tove ein eher spröder Liebhaber, der erst in den Soli der Wilden Jagd zur Bestform findet. Bemerkenswert sind die von Thielemann klar modellierten und deshalb in der harmonischen Fülle fein differenzierten Rhythmen. Fulminant gerieten durch räumliche und gestaffelte Organisation die Chöre von Waldemars Mannen und das Finale.
Roland Dippel