Georg Rudiger

Gstaad: Zwischen Profis und Nachwuchstalenten

Gut besuchtes Gstaad Menuhin Festival & Academy

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 46

Die Glocken läuten zum Konzert. Vor der Kirche Saanen herrscht dichtes Gedränge. Masken liegen zwar an den Eingängen aus, bleiben aber weit­gehend unangetastet. Man genießt die Normalität. Was heute auf dem Programm steht, wissen die Besucherinnen und Besucher nicht. Das Konzert von András Schiff ist trotzdem ausverkauft. Den Klavierabend beginnt der Pianist auf seinem mahagonibraunen Bösendorfer-Flügel mit der Aria aus Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen. Die Interpretation hat Ruhe, Spannung und Verbindlichkeit. Nur das Knarzen der Holzbänke stört die gesangliche Intimität. Die Aria habe er dem mit „Wiener Klassik“ überschriebenen Klavierabend als Zugabe vorausgeschickt, erzählt András Schiff in dem von ihm moderierten Konzert. Ludwig van Beethovens späte Bagatellen op. 126 haben in Schiffs meisterhaftem Spiel extrovertierte Energie, aber auch fragile Innerlichkeit. Wolfgang Amadeus Mozarts Rondo in a-Moll KV 511 entfaltet Eleganz. Zum Schluss: Franz Schuberts schwergewichtige Klaviersonate in A-Dur, im Todesjahr 1828 komponiert. Schiff kostet die Längen aus, entdeckt Sehnsuchtsorte und lässt im Finale dramatische Einbrüche auf melodische Emphase prallen.
Die Konzerte in den dreizehn Kirchen des Saanenlandes sind in diesem Jahr beim siebenwöchigen Gstaad Menuhin Festival sogar besser verkauft als 2019 vor der Pandemie. Corona ist beim über 50 Konzerte umfassenden Festival fast kein Thema mehr – nur eine krankheitsbedingte Umbesetzung beim konzertanten Fidelio am 11. August im Festivalzelt hat es gegeben. Ein Erbe der Coronapandemie ist aber der Verzicht auf eine Konzertpause in allen Kirchenkonzerten, was beim Publikum gut ankommt. Von der Struktur her ist das Gstaad Menuhin Festival 2022 gleich geblieben. Man holt in diesem Jahr den coronabedingt ausgefallenen Festivaljahrgang 2020 mit dem Thema „Wien“ nach. Größere Veränderungen wird es erst im nächsten Jahr geben. Zum einen bemüht sich das Festival dann um eine bessere CO2-Bilanz – die Analyse durch eine Klimaagentur ist inzwischen abgeschlossen. Zum anderen möchte Intendant Christoph Müller in Zukunft aktuelle Weltgeschehnisse im Programm spiegeln. Stolz ist Müller auf die Conducting Academy, die unter den insgesamt fünf Akademien in Gstaad die aufwändigste und international renommierteste ist.
Ortsbesuch im Festivalzelt Gstaad hinter der Tennishalle. Auf der Bühne sitzt das aus erfahrenen Profis zusammengestellte Gstaad Festival Orchestra. Die 24-jährige Izabele Jankauskaite aus Litauen dirigiert die Hebriden-Ouvertüre von Mendelssohn Bartholdy. Im Hintergrund beobachtet Dirigierlehrer Johannes Schlaefli konzentriert das Geschehen. Jankauskaite gibt aufmerksam die Bläsereinsätze und gestaltet organische Übergänge. Drei Wochen dürfen die insgesamt zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem Spitzenorchester ganz unterschiedliches Repertoire proben – in der letzten Woche sogar mit großer Symphonieorchesterbesetzung, wenn Jaap van Zweden, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, den Unterricht übernimmt. Der Neeme-Järvi-Preis am Ende verschafft den Gewinner:innen sogar künftige Auftrittsmöglichkeiten mit Partnerorchestern.
Preise hat Klaus Maria Brandauer schon einige gewonnen. In der voll besetzten Kirche Zweisimmen ist seine Rezitationskunst bei seiner Lesung von Richard Wagners Erzählung Eine Pilgerfahrt zu Beethoven zu erleben. Der Ich-Erzähler namens Richard Wagner muss auf seiner Reise von Leipzig nach Wien mit allerlei Prob­lemen kämpfen. Vor allem kommt ihm immer wieder ein nervender Engländer in die Quere, den Brandauer mit passendem Akzent charakterisiert. Großartig, wie der österreichische Schauspieler vom Plauderton zur Eskalation wechselt, wie er das Tempo variiert und auch mimisch die Geschichte verlebendigt. Nur die von Sebastian Knauer zu holzschnittartig interpretierte Mondscheinsonate im Anschluss an die 75-minütige Lesung wirkt ein wenig angeklebt, zumal das Werk nicht direkt mit der Erzählung zu tun hat.
Das Aufeinandertreffen von Avi Avital und Ksenija Sidorova in der Kirche Boltigen unter dem Titel „Von Wien nach Rio de Janeiro“ dagegen hat eine perfekte Gesamtdramaturgie. Der israelische Mandolinen-Virtuose und die lettische Akkordeonistin begegnen sich trotz der völlig unterschiedlichen Instrumente auf Augen­höhe. Hier die sofort ansprechende, fast perkussive Mandoline – dort das atmende Akkordeon. Selbst Mozarts Violinsonate Nr. 21 in e-Moll KV 304 erhält durch die große Musikalität der beiden Tiefe und Sinn, auch wenn man sich an die Klangkombination erst gewöhnen muss. Perfekt passen die Instrumente zu Igor Strawinskys Suite Italienne, die gerade in den neoklassizistischen Verfremdungen gewinnt. Manuel de Fallas Siete canciones populares españolas hat man selten so sinnlich gehört. „Today’s Music“ heißt dieses äußerst erfolgreiche Programmsegment, mit dem Christoph Müller seit Beginn seiner Intendanz 2002 den musikalischen Horizont des Festivals erweiterte. Im nächsten Jahr wird die Öffnung noch deutlich verstärkt.