Frauke Adrians

Große Griechin

Das Rudolstadt-Festival ist nach zweijähriger Pause zurück

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 40

Was hat Rudolstadt eigentlich so lange ohne uns gemacht? Vielleicht hat sich das der eine oder andere regelmäßige Gast des „Rudolstadt-Festivals“ (das früher tff Rudolstadt, davor Tanz- und Folkfest und sehr viel früher Tanzfest der DDR hieß) gefragt, als er Anfang Juli 2022 endlich wieder durch die Rudolstädter Gassen schieben, die Stufen zur Heidecksburg hinaufklettern oder über die Saalebrücke in den Heinepark rüberspazieren konnte. Zwei Jahre lang musste Rudolstadt ohne seine 80- bis 100 000 Folkfestgäste auskommen, die das 24 000-Einwohner-Städtchen sonst alljährlich für ein Juliwochenende völlig verwandeln. Vom 7. bis 10. Juli 2022 waren sie endlich wieder da. Andersherum gesagt: Das Publikum hatte Rudolstadt endlich wieder. Die Meinung der Rudolstädter dürfte wie immer geteilt gewesen sein, aber nach zwei Jahren Corona-Zwangspause waren zumindest die Ladenbesitzer froh, ihre kauffreudige Kurzzeitkundschaft wiederzusehen.
Dass die Festivalbesucher sich neue Shorts, Sonnenbrillen, Strohhüte oder auch Musikinstrumente und CDs aus Rudolstadt mitbringen, ist natürlich nur ein Nebeneffekt. Im Zentrum steht die Livemusik, standen bei dieser Festival-Ausgabe zum 30. Geburtstag des „Nachwende“-Folkfestes rund 300 Konzerte mit Bands und Solisten aus 40 Ländern. Klassische Musik und Orchester-­Instrumentarium spielte dabei zwar wie stets nur eine Nebenrolle, aber ein fester Programmpunkt im Konzertkalender war auch diesmal ein großes Heimspiel für das bald 400 Jahre alte örtliche ­Orchester, die Thüringer Symphoniker Saalfeld-­Rudolstadt. Und „groß“ meint wirklich groß. Die Symphoniker, die in ihrem angestammten Konzertsaal in Saalfeld vor maximal 400 Besuchern spielen, treten beim Festival im Schlosshof der Heidecksburg vor mehr als zehnmal so vielen Leuten auf – immer gemeinsam mit Gästen aus dem Universum von Folk und Weltmusik, deren Ruhm meist weit über die ohnehin schon weiten Grenzen der Folkfan-Gemeinde hinausstrahlt.
Diesmal war Maria Farantouri in Rudolstadt zu Gast, die Stimme Griechenlands, größte Interpretin des griechischen Kunstlieds, des politischen Lieds und des Protestlieds zu Zeiten der griechischen Obristendiktatur. Sie stand erstmals in den 1960er Jahren auf der Bühne, hat jahrzehntelang eng mit Mikis Theodorakis zusammengearbeitet und interpretiert bis heute seine Werke. Und wenn ihre Stimme nicht mehr so melodiös, so leichtgängig und lyrisch klingt wie ehedem, hat ihr Gesang doch kaum an Intensität eingebüßt; an Tiefe hat er gewonnen – Maria Farantouris Stimme erreicht in manchen Liedern Contralto-Schattierungen.
Im Zentrum der anderthalb Konzertstunden stand Theodorakis’ Mauthausen-Zyklus, vier Lieder über Leben und Leiden des griechischen Dichters Iakovos Kambanellis im Konzentrationslager; die Texte schrieb der KZ-Überlebende selbst. Maria Farantouri hat den Zyklus 1966 uraufgeführt, ihre Stimme ist nicht zu trennen von den bittersüßen Liedern. Beim Konzert auf der Heidecksburg wurde sie unterstützt von dem jungen israelischen Sänger Assaf Kacholi, der mit seinem auch an Filmmusik und Musical geschulten Tenor eher Gewicht auf die Süße als auf die Bitternis legte und die theatralisch-blumige Seite der Kantate möglicherweise etwas überbetonte. Umso deutlicher wurde, wie ungekünstelt und geradlinig Maria Farantouri singt – gut auch für das Textverständnis an diesem griechisch-hebräisch-deutschen Liederabend.
Von den Thüringer Symphonikern wurde die Solistin auf Händen getragen, sie begleiteten ihren Gesang feinfühlig und zurückhaltend. Selbst eine Maria Farantouri kann sich stimmlich nicht ohne Weiteres gegen ein Sinfonieorchester behaupten, doch Chefdirigent Oliver Weder sorgte einfühlsam für klangliche Balance und auch dafür, dass Instrumentalsoli – sowohl aus dem Orchester als auch aus Farantouris und Kacholis kleinem Bouzouki-Begleitensemble – gebührend strahlten. Besser können die kraftvollen politischen Lieder kaum zur Geltung kommen. Und spätestens als Maria Farantouri ihre Lieder dem Andenken an Theodorakis widmete, war auch der Meister selbst im Geiste anwesend bei diesem Konzert, das trotz des Mauthausen-Zyklus keinen bedrückenden Eindruck hinterließ, sondern ganz im Gegenteil ermutigend, über weite Strecken sogar fröhlich wirkte. So etwas gelingt nur dem Klezmer – und der traditionellen griechischen Musik, die ihm in mehr als einer Hinsicht verwandt ist.
Dass die Rudolstadt-Regie zur 30. Ausgabe des Festivals die Nachfolgestaaten Jugoslawiens als Schwerpunktländer ausgewählt hatte, passte beklemmend gut zur aktuellen Lage in Europa. Von den sieben jungen Demokratien, die allesamt noch heute mehr oder weniger schwer an den Folgen der jugoslawischen Zerfallskriege zu tragen haben, ließ sich eine Brücke bauen zu der von Russland überfallenen Ukraine. Sie war während der vier Festivaltage präsent – in Diskussionen, Politikeransprachen und natürlich musikalisch, in den Konzerten der Sängerin Mariana Sadovska und der Band Kurbasy.
Ein gemeinsames Konzert der ukrainischen Musikerinnen mit den Kolleginnen von der Protestband Pussy Riot kam leider nicht zustande; dem Vernehmen nach wollten die Ukrainerinnen nicht gemeinsam mit Russinnen auf der Bühne stehen, und seien die auch noch so oppositionell und anarchisch.
Nationalismus liefert Kriegen Munition. In Rudolstadt – das ist eine Selbstverständlichkeit – hat er nichts verloren. Er wird nicht totgeschwiegen, das Programmbuch zum Festival findet deutliche Worte zum serbischen, aber auch zum kroatischen Nationalismus, der das Klima auf dem Westbalkan vergiftet; aber die vier Folkfesttage sind dazu da, die musikalischen Traditionen der Welt und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu feiern. Das gelang – nicht unbeschwert, nicht abseits des kriegerischen Weltgeschehens. Aber dennoch. Und im kommenden Juli, wenn Kuba das Schwerpunktland des Festes sein soll, hoffentlich wieder.