Wolf-Dieter Peter
München: Grauen und Tändelei
Die Münchner Opernfestspiele bieten Neuinszenierungen von Krzysztof Penderecki und Richard Strauss
Wie schon in ihrer ganzen ersten, eher durchwachsenen Spielzeit forderten Intendant Serge Dorny und GMD Vladimir Jurowski das Münchner Festspielpublikum heraus. Nur in einem Gastspiel war 1970 Pendereckis düsteres Musikdrama Die Teufel von Loudun im Nationaltheater zu erleben. In unseren aktuellen Neu-Wahn-Phasen also höchste Zeit: Der historische Fall von 1634, in dem ein Priester schließlich öffentlich verbrannt wird, ist ein Beispiel für den erst Ende des 18. Jahrhunderts endenden Wahn um „Teufel“ als Vorwand für Anderes – in Loudun sind es Kardinal Richelieus Durchsetzung des königlichen Absolutismus gegen befestigt eigenwillige Städte, dann kirchliche und männliche Eifersüchteleien gegenüber einem charismatischen, redegewandt für die Stadt eintretenden und dann auch noch männlich attraktiven Priester, von dem sich eine körperlich etwas verwachsene Nonne abgelehnt fühlt und ihr sinnliches Begehren in wahnhafte Besessenheit durch diesen „Teufels-Priester“ bis zu dessen Hinrichtung steigert.
Tödlicher Verfolgungswahn in Musik klingt nicht süffig, das machte GMD Vladimir Jurowski fulminant klar: Die vorgeschriebene radikal veränderte Orchestersitzordnung der Erstfassung, der große Schlagwerkapparat hinter der Bühne, Fernwirkungen vom dortigen Chor, minuten-kurze Szenen und Klangschnipsel oder -ballungen in Vierteltönen, Cluster, Polyfonie, Gregorianik und vieles andere bis hin zu Melodik-Häppchen – all das ergab eine fesselnde, ja, einzig passende, mitunter geräuschnahe filmisch-szenische Soundkulisse. Bravi für Jurowski, das Staatsorchester, den Chor (Einstudierung Stellario Fagone) und Klangregisseur Sven Eckhoff.
Die covid-bedingte, kurzfristige Absage von Wolfgang Koch wurde glänzend gelöst: Bariton Jordan Shanahan sang sichtbar und höchst expressiv am Bühnenrand des Orchestergrabens, und mit Schauspieler Robert Dölle stand ein „Mannsbild“ auf der Bühne, das nicht nur der Bühnenaktion, sondern auch den Sprechpartien des Paters Grandier beste Kontur verlieh – diese fast Brecht’sche Verfremdung ließ den Parabel-Charakter der Aufführung noch unumgänglicher wirken. Aušrinė Stundytė machte als Priorin Jeanne die Liebessehnsucht einer jungen Frau wie die hysterischen Besessenheitsanfälle so hör- und sichtbar, dass der Massenwahn der zwölf Ursuliner-Mitschwestern, dann auch vieler (Chor-)Frauen glaubhaft wurde. Alle Nebenrollen waren charakterscharf besetzt – insgesamt ein Staatsopernensemble.
Sie alle agierten in heutigen Kostümen (Mel Page) in und um einen fast durchweg kreisenden hellen Beton-Würfel: mal Klaustro-Bunker, mal Piranesi-Treppenflucht, mal Schaulustigen-Loggia, mal Klosterzelle, mal Folter-Kabuff, mal weiter Kirchenraum, am Ende schier endlos drehender Spießruten-Golgatha-Weg des blutüberströmten Grandier bis zur Verbrennungszelle – ein glänzender, das schnell-kurze Szenen-Tempo ermöglichender Bühnenbild-Wurf von Bob Cousins und Anna Wunderskirchner. Dieses „Bravo!“ schließt auch Regisseur Simon Stone ein: Seine nie künstlich aktualisierende Zeitnähe der ganzen Handlung machte den Bogen von Osteuropa nach Abu Ghuraib über alle Unrechtsstaaten-Gefängnisse bis Guantanamo unumgänglich. Und da etliche Stellvertreter-Figuren oben auf der Bühne auch ein Handy zückten: Ja, wir haben unsere eigenen Massen-Wahn-Phänomene in den (a-)sozialen Medien – gerade jetzt. Ein Musiktheaterkunstwerk und eine kongeniale Verwirklichung machten das bedrückend und unausweichlich klar: Grandiers finales „Lernet, was Liebe heißt“ gilt als „Lernet, was Gerechtigkeit heißt“ auch für unsere Tage. Auch dafür sind Festspiele da!
In der Strauss-Hochburg München gelten höchste Maßstäbe, auch wenn Capriccio gerne als geistreiches Alters-, ja, 1942 im Stalingrad-Umfeld uraufgeführt, als „Weltflucht“-Werk eingestuft wird. Wenn also der ungarische Regisseur David Marton in Lyon – wo seit 1942 der Gestapo-Chef Klaus Barbie als „Schlächter von Lyon“ hauste und dennoch Jean Moulin, den Kopf der Resistance, 1943 nicht brechen konnte – inszeniert, wäre ein Gastspiel-Highlight zu erwarten. Doch dass Marton alles in der Entstehungszeit ansiedelte und Christian Friedländer ihm dafür ein kleines Provinztheater im Längsschnitt von Hinterbühne, Bühne, Unterbau, Orchestergraben, Parkett bis Logen baute, blieb lediglich reizvoller Ansatz, darin nur nett Arrangiertes und inkonsequente NS-Anspielungen. Vokalfreunde trösteten sich mit dem Debüt Diana Damraus als Gräfin. Sie stellte sich damit einer herausfordernden Vorgängerinnen-Galerie: von Viorica Ursuleac in der Uraufführung über Lisa della Casa zu Claire Watson und vielen weiteren Star-Sopranistinnen. Damrau verkörpert die verwitwete Gräfin überzeugend und gesangstechnisch sehr gut. Nur hat ihr der Sopran-Enthusiast Strauss ja blühende, glutvolle, schier überbordende Phrasen komponiert – und da bleibt der Damrau-Sopran zu klar und rein, ohne brennende Emotion.