Wolfgang Rihm

Grat/Edge

Works for and with violoncello. Friedrich Gauwerky (Violoncello), Alexandra Greffin-Klein (Violine), Axel Porath (Viola), Florian Uhlig (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 69

„Der Ton, den er aus seinem Instrument zieht, ist […] ausserordentlich schneidend, fern und ergreifend.“ An dieses Lob, das Carl Ludwig Junker 1791 in Boßlers Musikalischer Korrespondenz dem Cellovirtuosen und Komponisten Bernhard Romberg ausspricht, fühlt man sich beim Spiel des hiesigen „Hauptdarstellers“, des Cellisten Friedrich Gauwerky erinnert. Und da wir schon bei ihm sind, fällen wir über seine Interpretation der Cellowerke Wolfgang Rihms ebenfalls ein eindeutiges Urteil: Er meistert die nicht geringen Schwierigkeiten, die der mit ihm befreundete Komponist ihm „zumutet“, mit größter Bravour. Doch hören wir dazu noch einmal Junker: „[…] der Kenner hat einen andern Maßstab, wornach er die Größe des Virtuosen ausmißt; und dies ist Spielmanier, das Vollkommene des Ausdrucks, oder der sinnlichen Darstellung.“ Auch diese Attribuierung lässt sich problemlos auf Gauwerky übertragen.
Zum Werk selbst: Die CD ist eine Hommage an den Komponisten zu seinem 70. Geburtstag, kein wirklicher Querschnitt durch das Werk, aber doch markante Wegzeichen aufstellend. Das älteste hier eingespielte Werk(chen), das der 17-jährige Rihm 1969 komponierte, ist das nur vierminütige Streichtrio Nr. 2, das sich noch eng der Zweiten Wiener Schule verbunden zeigt. Ihm folgt das wohl virtuoseste Stück Grat für Violoncello solo, in dem Rihm sich auf der Suche nach freieren Formen von der Zwölftönerei verabschiedet: eine musikalische Akrobatik ersten Ranges! An dritter Stelle ist auf der CD ein typisch Rihm’sches „Entwicklungswerk“ platziert: die 1993 umgeschriebene Antlitz-Komposition für Violoncello und Klavier, die sich seither mit der Bezeichnung von weit schmückt. In den Worten Rihms eine „Umschreibung“ (Betonung auf der ersten Silbe!) der früheren Komposition. Ein „leises“ Werk, überwiegend im Pianissimo.
Das zentrale Stück, der zweiteilige, etwa 15-minütige Duomonolog für Violine und Cello, entstand zum Ende der 80er Jahre vorigen Jahrhunderts. Diese Komposition, der Versuch einer Art „Verschmelzung“ zweier Instrumente, zeigt nach einigen tastenden Schritten in seinem ersten Teil eine Wildheit, eine (buchstäblich!) schreiende Dramatik, die an die Ausführenden höchste Anforderungen stellt. Teil 2 ist wieder eher kontemplativ. Die CD schließt ab mit dem 1971 entstandenen Streichtrio op. 9, das mit einem scharfen Aufschrei beginnt. Spielt der politisch stets bewusste Rihm auf die unruhigen endsechziger Jahre an, die noch weit in die 70er hineinstrahlten? Die Satzbezeichnungen „Äußerst heftig, aber sehr starr“ oder „aufgeregt“, „wild“, „so schnell wie möglich“ oder „hastig, keiner achtet auf den anderen“ lassen derlei vermuten. Die hier vorgestellte kleine „Werkschau“ verlangt allen Beteiligten das Äußerste ab, und sie lassen sich – im Wortsinne – hinreißen!

Friedemann Kluge